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MARTIN LECHNER / TOBIAS PREMPER

Supersubjektive Weltenchronik

von Simon Böhm und Helena Lang

Die kurze Form spielt, sie buchstabiert nicht aus. Und bringt gerade deshalb manch vage Lebensempfindung auf den Punkt. Tobias Premper und Martin Lechner sind Provokateure des Schreibens, Chronisten der Flüchtigkeit. Sie fertigen Miniaturen an. Knappe Skizzen, Momentaufnahmen, die keine Fortsetzungen finden. Kürzlich etwa geschehen im gemeinsamen Buch Gelati Gelati. Im Gespräch miteinander erkunden sie all die Wege, die zur Notiz führen. Artverwandt dem Gespräch in Notizen, das wir mit Tobias Premper in der Sentimenthek entlang seines Notizbuchs geführt haben.
Hier nun ist zwischen Premper und Lechner die Rede von halbtotem Daliegen, von Überrumpelung, von Anrufung sogar. Und zwischen all diesen Momenten blitzt immer wieder die zentrale Idee auf: Notieren als Basteln an einer supersubjektiven Weltenchronik. Eine Perspektive, wie sie sonst niemand haben kann. Und doch eine, die sich teilen, mitteilen lässt. So handelt die Notiz immer auch vom Vorüberziehen unserer Eindrücke. Das flüchtige Notat erzählt seine eigene Flüchtigkeit. Es kann nicht bleiben. Nur vergehen, so wie die altgriechische chrónos, wie die Zeit.

Martin Lechner und Tobias Premper im Gespräch über Notizen.

Daliegen wie ein zuckender Fisch

Einmal, da hast du gesagt, deine Notizen wären wie eine Quelle, aus der sich alles speist, was du schreibst. Notizen hätten demnach die Funktion, verzweifelt leere Papiere mit ersten Zeichen zu füllen.

PREMPER Aus denen dann Miniaturen, Erzählungen oder Romane entstehen. Oder die ganz einfach Notizen bleiben.

LECHNER Notizen als Notizen. Es ist gar nicht so einfach, den Übergang zwischen dem Gekritzel einer Notiz und der daraus erwachsenden Geschichte zu erkennen, den Übergang vom Suchen und Sudeln ins Schreiben, vielleicht auch vom Misslingen ins Gelingen.

PREMPER Weiß man das denn je? Ich hab mir 2004, nachdem ich an einer längeren Prosa gescheitert war, so ein kleines, in dunkelgrünes Leinen gebundenes Notizbuch gekauft, um noch mal von Anfang an schreiben zu lernen. Ohne veröffentlichen zu wollen oder sonst was. Mit allen anderen Texten hab ich Tabula rasa gemacht und sie in einen Schrottordner gezogen. Goethe hat das »Kartoffelsack« genannt. Eine Grundnahrungsmittelaufbewahrungsstelle, in der angefangene, unvollendete, misslungene Texte gesammelt werden. Kann auch sein, dass ich das fantasiert habe.

LECHNER Und dann bist du herumgewandert und hast gefragt: Was, mein lieber, dummer Tag, will von dir notiert sein? Oder hast du das immer gleich gewusst?

PREMPER Bisschen hab ich mir auch am Rhein bei Wiesbaden abgeguckt. Wie der da so geflossen ist.

LECHNER Roland Barthes beschreibt bezüglich der Notiz ein Gefühl der Überrumpelung und des Beuteglücks: »Der Impuls zur Notatio ist unvorhersehbar«, sagt er in der Vorbereitung des Romans, und dass die Notiz ein »innerer Scoop« ist. Also nicht die große aktuelle Weltnachricht an alle, sondern der kleine Krakel für mich. Oft sind es ja die hauchkleinen Eindrücke, die im Hintergrund des Bewusstseins vorüberschweben. Die man kaum bemerkt, geschweige denn begreift. Die im Augenwinkel aufzucken.

PREMPER Bei mir begann das mit der kurzen Form, als ich wie ein halbtoter Fisch dalag und das Zucken begann.

LECHNER Zucken auch, weil es immer schnell gehen muss. Es gibt Situationen, da prickelt ein Ameisenlaufen über den Rücken. Nicht, dass der Augenblick vorüber ist, bevor man ihn erfasst hat. Man zieht den Stift »wie ein Gangster seinen Colt zieht«, formuliert Barthes etwas bemüht. Um gleich danach interessant zu pointieren: »Es geht nicht darum, etwas zu zeigen, sondern den Keim eines Satzes entstehen zu lassen.« Das ist die zentrale Sorge. Nicht, dass man etwas vergisst, sondern dass der Keim, dieser luftige Zusammensturz von Ereignis und Bewusstsein, zerfällt, bevor er verwirklicht wurde.

PREMPER Manche Empfindung oder Situation ist ja nach ein paar Minuten schon ins Reich des Vergessens entschwunden, für immer.

LECHNER Zurück bleibt oft bloß das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Dabei muss die Notiz ja gar nichts Besonderes erfassen. Keine Neuigkeit, Entdeckung, Verkündigung. Stattdessen Gestromer, Geschwebe, Gespenstigkeiten. Gestern etwa, als ich vorm Café Motte saß und meine Verluste überschlug, da blies der Wind dem heraustretenden Kellner den Cappuccino aus den Tassen.

PREMPER Hast du dann dein Notizbuch auch in einer einzigen Bewegung aus der Tasche gezogen und genau an der richtigen Stelle aufgeschlagen, um sofort etwas zu notieren? Oder hast du es später notiert? Und hast du nur die Beobachtung notiert oder auch, was sie mit dir in diesem Moment gemacht hat, also, dass du ein Verlustgefühl hattest?

LECHNER Ich habe einen Satz auf einen Zettel geballert und dann den Qualm von der Stiftspitze geblasen. Reine Beobachtungsnotizen mache ich eigentlich nie. Ich will ja immer im Augenblick der Notiz die Möglichkeit eines Satzes ausloten. Sozusagen im Angesicht der Situation, die später, in der Erinnerung, an Kraft verloren hat. Was mich übrigens an eine der ersten Notizen aus deinem neuen Buch erinnert: »Ob wohl auch die Passagen, die ich im Traum aufschreibe, am Ende auf dem Papier stehen?« Sehr schön, dass du »am Ende« schreibst, das kann ja vieles heißen, am nächsten Morgen genauso wie am Ende des Lebens.

Den Mauerstein spalten

Ich stand vor ein paar Tagen in einer verkehrsberuhigten Straße und habe eine Zigarette geraucht. Wunderschöner, sonniger Tag. Keine Menschenseele nirgendwo. Dann ging eine Frau auf der anderen Straßenseite entlang, ganz dicht am Zaun, und als sie mich sah, drückte sie sich regelrecht in die Lücke zwischen zwei Latten, wie in Zeitlupe, was mich sehr bedrückt und eingeengt hat. Und über mir dieser weite, offene Himmel. Hab ich dann aber nicht aufgeschrieben. Was meintest du übrigens mit »die Möglichkeit eines Satzes ausloten?« Ist es nicht so, dass da im Moment, oder von mir aus auch später in der Erinnerung, eine Verwandlung von Welt in Sprache stattfindet? Weil dich da etwas anging.

LECHNER Damit meine ich, dass längst nicht jede Notiz gelingt. Vieles, wenn nicht das meiste, ist Murks. Verwandeln, wie du sagst, scheint mir der ideale Begriff. Und so eine Verwandlung kann natürlich genauso im Nachhinein passieren. In jedem Fall braucht es ein empfänglich entkrampftes Bewusstsein. Eines, das zumindest zeitweise aus dem Tunnel der Ziele und Zwecke auftaucht.

PREMPER Man könnte denken, dass Notizen beiläufig entstehen, aber das stimmt nicht. Ich brauche Zeit dafür. Wenn ich mir diese Momente nicht bewusst nehme, in denen ich einfach mal stehenbleibe und schaue, wenn ich mich nicht zumindest kurz mit dem Ort verbinde, wenn ich gehetzt und getrieben bin durch den Alltag, dann ist da oft auch einfach gar nichts. Dann schreibe ich wochenlang nichts auf, das ist wie eine Dauerablenkung durch Brotjobs, Organisationsmist, Steuerkram, alles ein riesiger Haufen, unter dem ich verschwinde. Dann dringt nichts in mich hinein, kann also auch nicht durch mich hindurch und wieder heraus als Notiz. Dann bin ich wie ein Revolverheld, der vergessen hat, dass er jemals einer war.

LECHNER Uff.

PREMPER Bissl Hollywood muss sein. Aber lass uns doch weitermachen.

LECHNER Auf jeden Fall wünsche ich mir immer, dass gerade in diesen vor lauter Arbeit kreischenden Affentagen Notizen möglich bleiben. Statt immer nur auf die kontemplative Bummelzeit zu warten. Lieber Notizen beim verschwitzten Alltagssprint als auf dem poetischen Sonnendeck. Zumal sich die Entkrampfung des Bewusstseins zum Selbstzweck verkorksen kann. Der Augenblick der Notiz braucht, glaube ich, notwendig das Moment der Überraschung oder der Überrumpelung.

PREMPER Der Anrufung sogar.

LECHNER Oder der beiläufigen Anrufung. Denn wenn ich mit gezücktem Stift spazieren gehe, in der anderen Hand das aufgeschlagene Notizheft, oder mit über dem Display kreisenden Zeigefinger im Café sitze, immerfort lauernd auf die nächste Möglichkeit zur Notiz, dann werde ich sicher vieles notieren, aber das meiste wird –

PREMPER – Bananenkäse sein.

LECHNER Vielleicht entsteht die Notiz am ehesten mit einem immer wieder abschweifenden, immer wieder zurückgepfiffenen, dann neu davonstromernden Bewusstsein.

PREMPER Ein Bewusstsein, das gleichzeitig müde, zerstreut, offen und total konzentriert ist, um dann einen Haufen Mauersteine mit einem einzigen Schlag zu spalten.

LECHNER Ein Bewusstsein zerstreuter Konzentration.

PREMPER Das mitschwingt in seinem eigenen Rhythmus. Das wachsam die Welt im Augenblick erlebt. Das sich mit den Orten verbindet und dem Erlebten, dem Gedanken auch, eine Sprache verleiht.

LECHNER Der Übergang vom Gedanken zur Schrift ist schwer zu beschreiben, aber es findet dabei eine Verschärfung statt, eine Verdichtung und Verwirrung, die das Schreiben so anstrengend macht. Und die vielleicht auch die Verführung zu naheliegenden Worten erklärt, die man sich schnappt, bevor die unbegreiflich brodelnde Welt sich weitergedreht hat.

PREMPER Noch nicht mal ein naheliegendes Wort, sondern oft sogar nur ein »du weißt schon, was ich meine« und andere Floskeln. Das ist Sprachverweigerung, Denkverweigerung, Lebensverweigerung. Das ist die Diktatur der Sprachlosigkeit. Da können nur noch Zahlen aufgesagt und Hälse durchgeschnitten werden.

Erdbeersekt trinken am Priesterweg

Hast du denn immer noch Hoffnung, dass ein Autor mit Notizen oder kürzesten Kurzgeschichten nicht auf verlorenem Posten steht?

LECHNER Der verlorene Posten kann ja ein sehr guter Ort sein. Zum Schreiben und zum Lesen auch. Es sei denn, mit dieser Verlorenheit ist vor allem eine aktuell mangelnde Anerkennung gemeint. Die gibt es sicher. Im deutschsprachigen Raum ist der Platzhirsch der Roman. Dagegen sind Notizen bloß Insekten. Aber auch einen Roman schießt man nicht aus der Hüfte ab. Der entscheidende Unterschied ist vielleicht, dass einen die Notiz wach hält für den Augenblick, während der Roman die Wahrnehmung auf die darin erzeugte Welt verengen kann.

PREMPER Kannst du was damit anfangen, wenn ich von Notizen oder Aufzeichnungen als supersubjektiver Weltchronik oder Mitschrift der laufenden Ereignisse spreche?

LECHNER Weltchronik klingt nach einer Mitschrift der politischen Ereignisse.

PREMPER Als würde die Welt nur aus Politik bestehen. Ich mag die Idee der supersubjektiven Weltchronik, aber nicht den Anspruch, der damit verbunden ist, dass das Notierte etwas Allgemeingültiges abbilde, das alle etwas anginge oder für jeden von größtmöglicher Bedeutung sei. Das Notierte ist erst mal nur für mich und total lückenhaft. Es erzeugt meine eigene Realität, die nicht von anderen bestimmt ist durch deren Sprache.

LECHNER Meinst du ein allgemeines Gefühl der Informationsüberflutung? Gerade in diesen Seuchentagen gibt es ja eine regelrechte Sintflut an Informationen.

PREMPER Ich meine den Unterschied zwischen Mediensprache, Werbung oder Politikersprache und der Sprache von Literatur. Die eine will immer etwas von mir, mich von etwas überzeugen, will mir etwas verkaufen, eine Wahrheit womöglich, und die andere will gar nichts von mir, sondern bietet mir nur ihre Sicht auf die laufenden Ereignisse an.

LECHNER Aber alle Schreibenden wollen dich von etwas überzeugen, von ihrer Geschichte nämlich. Sie nehmen sich nur mehr Zeit. Abgesehen davon gibt es auch sehr verschiedene Mediensprachen. Ich würde nicht von einer abgesicherten, womöglich höher angesiedelten Sondersphäre der Literatur ausgehen.

PREMPER Ich erlebe Mediensprache oft verkümmert. Vielleicht, weil sie abliefern muss, Deadlines hat. Und sie verfolgt immer auch irgendeinen Zweck und ist deshalb auf Funktionalität beschränkt. Sie will etwas erreichen, etwas erzielen, entsteht nur aus Gewissheiten und hat oft Absolutheitsanspruch. Aber genau darin muss sie scheitern, denn sie besitzt keine Zwischenräume, kein Mitfühlen, kein Nachspüren. Es ist eine Rechthabersprache. Um wieder auf die Literatur zurückzukommen – sie besitzt viel mehr Freiheiten. Ich will niemanden verführen. Niemandem etwas vormachen. Niemanden verarschen. Niemandem etwas antun. Ich mache lediglich Angebote, die man annehmen oder ablehnen kann. Wo waren wir eigentlich vor der Mediensprache?

LECHNER Was eine Mitschrift betrifft, so scheint die mir immer nur den buchhalterischen Aspekt von Notizen zu erfassen, das Verlangen, etwas festzuhalten. Ich merke aber, wie mich gerade die flüchtigsten Erlebnisse zur Notiz ziehen. Der Hauch der Tage. Wahrnehmungen, die verweht sind, bevor sie die Schwelle des Bewusstseins vollends überschritten haben. Die man nur dadurch erfasst, dass man mit ihnen zu schreiben versucht. Die am Ende, trotz ihrer Herkunft aus Hamsterradtagen, vorrangig in Sprache bestehen.

PREMPER Das Radio, das einen Blues aus den 1930ern spielt, und ich denke: So bin ich, und so muss ich immer sein.

LECHNER Der verdüsterte Erdbeersekttrinker am Priesterweg.

PREMPER Der Moment, in dem jemandem aufgeht, dass seine Gefühle, seine Liebe oder sein Hass nicht echt sind (I am a television version of a person with a broken heart, THE NATIONAL).

LECHNER Eine in Zeitlupe durch die Luft geisternde Plastiktüte.

PREMPER Ein wolkenloser Mensch: einer, der bei klarem Verstand ist.

LECHNER Mit bleichen Gesichtern an Zäunen lehnende Leserinnen im Park.

PREMPER Eineiige Jungs tanzten über den Gehweg (welch doppelt schönes Leben).

LECHNER Das Erschrecken über diese sonnenhelle Einzelgängerwelt, das sich nicht einstellen will.

PREMPER Dieses Gefühl, man würde sich in Luft auflösen, wenn man nichts notiert.

LECHNER Nur um später und ganz woanders wieder herunterzuregnen.

Verkritzeltes Toilettenkabuff

Eine deiner Notizen geht so: »Die Notiz findet statt auf Zetteln, Servietten, Buchseitenrändern, auf Handrücken, Restaurantrechnungen, gar Geldscheinen, wenn die Not drängt.« Das sind alles so etwas wie private Orte. Wie ja auch das Notizbuch. Hast du mal überlegt, etwas spontan an Hauswände, an Fensterscheiben, auf Autos, auf die Jacke eines Fremden oder in den Sand zu schreiben oder etwas in eine Holzbank zu ritzen? Also ganz ohne Notizbuch, frei davon.

LECHNER Abseits von virtuellen Wänden fasziniert mich sowas sehr: Krakelspuren und Schriftschleier an Hauswänden, wütend bekritzelte Werbeplakate, Randworte in ausgeliehenen Büchern. Das liegt auch an der Materialität. Wenn ich so etwas sehe, kann ich nicht wegschauen. Auch wenn ich so was selber nie tue. Nur einmal muss ich eine Ausnahme gemacht haben. Ich stand in einem fantastisch verkritzelten Toilettenkabuff und schweifte über die Zeichenlandschaft. Bis mir plötzlich ein Satz ins Auge sprang. Die Schrift kam mir seltsam vertraut vor. Und schlagartig schwang der Gedächtnisvorhang auseinander, dicker roter Brokat, versteht sich, der zeitlupenhaft zur Seite schwappte, und mir fiel ein, dass ich ja letzte Woche schon einmal hier gewesen war. In jener wenig nüchternen Nacht, die mit einer Achterbahnfahrt des Bewusstseins geendet hatte, muss ich tatsächlich selbst etwas an die Toilettenwand gekritzelt und gleich vergessen haben. Aber das war eine Ausnahme.

PREMPER Gar keine Erinnerung mehr an den Satz?

LECHNER Ach, der Satz, den hat gefressen ein Spatz.

PREMPER Es gibt ein Sprichwort aus dem Französischen, das mir ein Amerikaner verraten hat: »You think of what to say after you walk away.«

LECHNER Always.

PREMPER Mir fällt oft, wenn ich eine weiße Wand oder ein verstaubtes Auto sehe, einfach nichts ein. Aber wenn ich dann um die nächste Ecke gebogen bin, fällt mir alles ein. Nur gehe ich dann nie zurück, sondern schreibe es ins Notizbuch.

LECHNER Die Entpuppungszeit der Notiz. Vielleicht ein weiteres Beispiel für die generelle Langsamkeit von Literatur. Was unterscheidet eigentlich die Notizen von den Miniaturen, also den kurzen Prosastücken? Die Zeitverhaftung?

PREMPER Folgt der Leser den Notizen über eine längere Strecke, wird ihm die Zeit bewusst, der Wechsel der Jahreszeiten, die Stimmungen, ob da einer nur in seinem Zimmer sitzt und denkt oder ob da einer unterwegs ist in den italienischen Hügeln. Dann fließt er mit der Zeit dahin, verliert sich in ihr. Miniaturen dagegen sind in sich geschlossener und durchkomponierter, nicht artifizieller, aber doch nicht so im Lauf der Zeit wie Notizen.

LECHNER Der Unterschied zwischen Notizen und Miniaturen wäre für dich also weniger der, dass erstere persönlicher, vielleicht tagebuchhafter, sondern dass sie stärker miteinander verbunden sind, während letztere auch für sich stehen können.

PREMPER Viele Notizen sind ja auch wie Miniaturen, können alleine stehen und mit dem Schwänzchen wackeln. Aber die Gesamtkomposition, also ein Buch mit Notizen oder Miniaturen, ist eine andere.

LECHNER Sind die Miniaturen auch stärker abgelöst vom Moment des Notierens?

PREMPER Das muss nicht sein. Sowohl für Notizen als auch für eine Miniatur muss ein Impuls vorliegen, ein besonderer Klick-Moment, in dem ich denke: Das könnte eine Geschichte sein, die ich erzählen will. Und dieser Moment muss auch festgehalten werden. Das geschieht manchmal im Notizbuch, manchmal auf einem Zettel, manchmal wandert es auch direkt in den Computer. Barthes sagt, das eigentliche Schreiben beginne erst mit dem Abschreiben. Eine Miniatur oder ein längeres Prosastück wäre dann eine wuchernde Notiz. Wobei das im Prinzip auch für die Abschrift einer Notiz gilt. Da kommt es ja auch vor, dass ich den Kern einer Situation zwar festgehalten, die Beschreibung aber verkackt habe. Und dann muss ich bei der Abschrift noch mal ran und das präzisieren. Bei einer Miniatur entsteht dann aber eher ein wucherndes Narrativ (manchmal aus einer Notiz hervorgehend), das zu einem einzelnen Text wird. Vielleicht ist die Miniatur nur ein etwas längerer Atem, ein paar Sätze mehr, dem Gedanken etwas weiter folgend. Das Narrativ der Notizen sind dann wieder die fortlaufenden Ereignisse, die so stattfinden, wie mein Leben ist, von Tag zu Tag, von Moment zu Moment, immer wieder jetzt und jetzt.

LECHNER Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben erst mit dem Abschreiben beginnt. Sondern immer schon mit dem allerersten Buchstaben. Natürlich dehnt sich das Schreiben über die verschiedenen Überarbeitungsphasen aus. Ein Text ist ja ein unendlich expandierendes Universum, das sich beim passenden Pieks als Luftballon erweisen kann. Deswegen finde ich Anfänge so interessant. Wenn ich von der Wahrnehmung, dem Gedanken, der Lektüre hinüberzugehen versuche in einen ersten Satz. Ist es dir eigentlich wichtig, dass sich dieser Moment in den Notizen niederschlägt, dürfen all die krummen und dummen Formulierungen überleben?

PREMPER Wenn der Schwung des Erlebens heftiger war als das Sprachvermögen in dem Moment? Nur wenn das Notierte besonders schön doof war.

LECHNER Oder überarbeitest du die Notizen so weit, dass sie sich ablösen von diesen anfänglichen Augenblicken? Zum Beispiel haben deine Notizen ja kein Datum. Auf eine Art Tagebuchentschuldigung scheinen sie sich nicht berufen zu wollen.

PREMPER Natürlich müssen einzelne Passagen überarbeitet werden. Der Kern einer Notiz wird dabei aber selten verändert, eher dann schon komplett gestrichen, wenn das Notierte zu banal oder einfach missglückt ist. Dabei lösen sich die Notizen aber nicht ab vom erlebten Augenblick. Es handelt sich eher um eine Präzisierung, eine Zuspitzung. Ich denke, dass immer so ein Drittel des ursprünglich Notierten rausfällt, vielleicht ein bisschen mehr noch, die Hälfte etwa, ach, Erbsenzählerei.

LECHNER Manchmal, wenn auch meistens nicht, hat gerade die unbearbeitete, die nur schnell auf den Zettel gefetzte Rohnotiz eine erschreckende, regelrecht zustechende Frische.

PREMPER Zur Überarbeitung noch mal ein Beispiel. Eins, wo's schiefgegangen ist. Zum Beispiel der Satz „Dann gingen sie zu ihm nach Hause und machten Liebe“. Hab ich im gedruckten Buch gelesen und gedacht, dass ich das nie so schreiben würde. Hatte ich im Manuskript auch nicht. Ist dann aber im Lektorierungsprozess geändert worden, mit meiner Zustimmung muss ich der Fairness halber sagen. Ursprünglich stand da „Dann gingen sie zu ihm und liebten sich“. Und das kann ja alles bedeuten, ist also nicht bloß beschränkt auf den reinen Akt.

LECHNER Und wolltest du beim ersten Wiederlesen vor Scham aus dem Fenster springen?

PREMPER Einen Mord, ja, aber keinen Selbstmord. Aber hier dann ein Beispiel aus demselben Manuskript, wo eine Überarbeitung schon Sinn gemacht hat. Bei den Todesdaten bekannter bis unbekannter Menschen stand nur in einigen Fällen immer noch ein Satz dazu, ein Zitat oder etwas, das mir im Zusammenhang mit der Person, die da gestorben ist, wichtig war. Beispiel: „Vorgestern ist Hank Jones gestorben. Er spielte mit drei der schönsten Frauen des Jazz: Ella Fitzgerald, Marilyn Monroe und Charlie Parker. (18.5.2010, Zurück in der Gegenwart)“. Immer, wenn so ein Satz dann gefehlt hat, habe ich das im Laufe der Korrekturen angeglichen.

Notizenmüdigkeit

Wenn, wie du eben gesagt hast, Miniaturen ausgewucherte Notizen sind, wären dann Romane ausgewucherte Miniaturen?

PREMPER Notizen laufen bei mir immer parallel zu allem anderen ab. Egal, ob ich an Miniaturen oder einem Roman arbeite, ich mache auch stets Notizen. Mal mehr, mal weniger. Es kann zum Beispiel sein, dass ich aus den Frühlings-Passagen in einem Notizbuch später ein Kapitel für einen Roman schreibe. Oder aus einer Notiz eine Miniatur mache. Oder aus einer Miniatur einen schönen Satz rausnehme für eine Notiz. Etwas Geschriebenes umarbeite, weiterarbeite, verwandle. Das ist für mich ein großes Universum, in dem alles zusammenspielt und wuchert. Oder mir gelingt einfach nur ein schöner Satz und dabei bleibt es.

LECHNER Der Glaube an den Satz ist mein größtes Handicap.

PREMPER Für mich ist das Notizbuch wie ein Making-of, wo ganz viel mitgeschrieben wird. Das kann irgendwie, irgendwo, irgendwann mal jemanden interessieren, ist aber letztlich Material, aus dem ein Buch gemacht wird. Das Buch als Träger von Inhalten. Eins, das gut in der Hand liegt. Kannst du mit ins Bett nehmen, als Kopfkissen. Oder jemandem an den Kopf werfen, Fliegen damit totschlagen, kannste was reinschreiben oder rausreißen und jemandem schicken. Auf jeden Fall kannste's anfassen. Kannste mit angeben. Kannste jemandem schenken. Also deinen E-Reader würdest du ja niemandem schenken. Du merkst, ich werbe fürs Buch wie der dicke Walther damals auf dem Provinz-Markt für seine Blumen.

LECHNER Befällt Dich niemals Notizenmüdigkeit? So ein Zustand unbegreiflichen Unglücks? Als würden die Knochen zu Gummi. Weil es ohne Notizen nicht geht. Aber manchmal auch nicht mit. Dann rauschen die Tage hilflos dahin.

PREMPER Dann reiten sie wie Wildpferde über die Hügel, ja. Das ist Ritual und Sisyphusarbeit in einem. Die Zeit dafür muss immer da sein. Aber es gibt Wochen ohne eine einzige Notiz, und wenn dann das Notizbuch in einer meiner Taschen auftaucht, fühle ich mich kurz wie ein Fremder. Letztlich ist das Notizbuch wie ein Ausweis. Da steht drin, wer du bist. Manchmal bist du voller Licht. Und manchmal fällst du in ein Loch und hast es schwer, da wieder rauszukommen.

LECHNER Das klingt nach einer schönen Notiz.

PREMPER Peng!

Tobias Premper (*1974) ist Grenzgänger zwischen den Medien. Er arbeitet im Bild-Text-Bereich und als Autor. Zuletzt im Steidl Verlag erschienen: Mississippi Orangeneis Blues (2016), Ich war klein, dann wuchs ich und war größer (2018) und Aber nur dieses eine Mal (2020).

Martin Lechner (*1974). Veröffentlicht viel in Literaturzeitschriften, ehe 2014 das Roman-Debüt Kleine Kassa (Residenz Verlag) erscheint, das für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. 2016 die Erzählungen Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen (Residenz Verlag). Gemeinsam mit Milo Pablo Momm entstehen Foto-Grafiken und Videos zu Opernarbeiten.

Produktion: Simon Böhm, Helena Lang, Konstantin Schönfelder, Holm-Uwe Burgemann

Bildmaterial: © Martin Lechner und Tobias Premper

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Supersubjektive Weltenchronik
Kapitel I–V
I Daliegen wie ein Fisch
II Mauerstein spalten
III Erdbeersekt am Priesterweg
IV Toilettenkabuff
V Notizenmüdigkeit

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