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#3 PETER TRAWNY

Also sprach Trawny

von Holm-Uwe Burgemann
und Dominik Erhard

Wir stehen am Ro­sen­tha­ler Platz vor einer Apotheke, aus der Peter Trawny noch schnell Tabletten holt: Kopf­schmer­zen. Wir wollen in den Grunewald fahren, denn wir suchen eine Analogie zum ländlichen Todtnauberg Heideggers. Die heiligen Könige der Rechten kamen immer schon aus Wäldern. Carl Schmitt gehörte zu Plet­ten­berg wie heute das Schwimm­bad AquaMagis, dessen Wer­be­spruch passend ist: »Hier rutscht Deutschland!«
Peter Trawny ist Gründer des ersten Martin-Heidegger-Instituts. An seiner Bürotür wurden gestern Antifa-Sticker ange­bracht, die man sofort ent­fernen müsse. An­fein­dung­en wie diese sind der Preis für die Wissen­schaft mit einem Denken, das anscheinend rechts ist. Das Wetter hingegen ist heute »pervers schön«, sollte das sich bis Dezember halten, würden wir alle verrückt. Da sei er sich sicher. Wir kommen an am Teufels­berg. Ein angemessener Raum für den Mephisto der abend­länd­ischen Philosophie, glauben wir. Das Licht ist gelb. Die alte Ra­dar­sta­tion ist im Vollzug des 20. Jahrhunderts verfallen. Noch in den 80er-Jahren wurde am Südhang Wein angebaut (das Wil­mers­dorf­er Teu­fels­tröpf­chen). Seit einigen Jahren ist die Ruine ein sogenanntes Nah­er­ho­lungs­ge­biet für Luft­hungrige. Der Weg aufs Dach ist gesperrt. Die Anlage sollte einst zur Welt­haupt­stadt Germania gehören. Daraus wurde nichts. Es sei schade, sagt Peter Trawny, dass dieser Ort wie auch die alte Reichs­kanzlei nicht mehr besichtigt werden könne. Das touristische Potential wäre im asiatischen Raum groß gewesen.
Wir gehen an bemalten Wänden entlang und nehmen Platz auf Bier­bänken, eingekesselt von einem gesichts­losen Zeichentrick-Charakter und einer Klimt-Replik. Dieser Raum ist gemacht für Kultur­pessimisten. Aus einem kleinen Holz­schäch­tel­chen holt der Philosoph eine kurze Zigarre. Er zündet sie mit einem Streich­holz an. Ringsherum suchen Menschen arglos nach Amüsement. Wir suchen Aufklärung.

Wir sitzen auf dem Teufelsberg. Kein Ort, der von der deutschen Vergangen­heit, dem Zweiten Weltkrieg, verschont geblieben wäre. Als Heideggers Heraus­geber, was glauben Sie: Hätte es Heidegger hier für ein Gespräch gefallen?
Definitiv nicht. Ich denke, dass alles wäre ihm zu heimat­los gewesen. Ein Niemands­land. Er hätte Kopf­schmerzen bekommen. Es gibt von ihm diese Geschichte, dass er einmal in Holland gewesen ist und sich die Gebiete angeschaut hat, wo man das Land vom Meer wiedergewonnen hatte. Dort gab es nichts außer freie Fläche und viel »Technologie«. Er hatte dort starke Kopf­schmerzen bekommen. Hier würde er noch kränker.

Wir sitzen auch inmitten von Graffitis. Hinter Ihnen haben wir ein Bild gesehen, das Gustav Klimt verfremdet. Das haben sie sofort erkannt.
Obwohl Heidegger ein großes Verständnis für Situationen der Entfremdung und des Bruchs entwickelt und es meiner Ansicht nach auch philosophisch sehr fruchtbar gemacht hat, hat er immer dafür gesorgt, selbst nicht in solche Situationen zu geraten. Biografisch wollte er sein Leben rund, gelungen und bruchlos gestaltet wissen. Das ist der Bruch in der Gestalt selbst: Der Heimatdenker, der von der Neuen Rechten auch zurecht angesteuert werden kann. Und der, der das Heimatliche einreißen und als dieser von den Neuen Rechten nicht angeeignet werden kann. Diese Ambivalenz zeichnet seine Position. Hier, das wäre für ihn ein Ort massiver Entfremdung.

Sie sprechen von der ambivalenten Rezeption, in der Heidegger legitim von der Rechten angeeignet wird und auf der anderen Seite von ihr unberührt bleibt. Was denken Sie darüber?
Es gibt viele Heidegger-Interpretationen, die ich nicht unterstütze. Ich hatte in Wien eine Gast­professur. Ich glaube, Martin Sellner hat einmal in einer meiner Vor­lesungen gesessen. Er hat mich wohl, und hat es auch einmal in einem Interview geäußert, als Sympathisant der Identitären Bewegung wahrgenommen. Das bin ich eben nicht. Ich verstehe zwar, was die Rechte an Heidegger fasziniert. Es ist das Performative: Das Antistädtische, das Bleiben in der Provinz, die gekonnte Performanz, die auch Kubitschek in Schnellroda versucht und woraufhin dann Journalisten von der New York Times nach Schnellroda reisen, um zu berichten, dass er da seinen Käse selbst macht. Das ist die Bewegung, die die drei heiligen Könige der Neuen Rechten vollzogen haben: Ernst Jünger in Wilflingen, Carl Schmitt in Plettenberg und Martin Heidegger in Todtnauberg.
Was die Leute nicht wahrnehmen wollen: Heidegger lehrt nicht nur Identität. Sein Denken – und so haben ihn dann bestimmte Franzosen rezipiert – setzt auf Differenz und diese hat philosophisch die Spreng­kraft, alles Heimatliche in die Luft zu jagen. Ob Heidegger sich selbst darüber im Klaren war, ist eine andere Frage. Das ist aber nicht wichtig für mich, ob der Philosoph sein Denken im Griff hat. Er hatte es versucht, natürlich, aber es gelang ihm nicht und kann nicht gelingen. Denken hat eine Eigen­dynamik, die der Philosoph nicht selbst organisieren kann. Bei Heidegger sieht man den Versuch zur Organisation sehr ausgeprägt, aber es ist ihm misslungen. Gott sei Dank. Sonst würde ich ihn nicht interpretieren und sein Denken nicht denken wollen.

Glauben Sie das?
Politische Situationen verändern sich. Was ihr Anlass ist, ist eine andere Frage. Es kann auch einen schrecklichen Anlass geben. Bolsonaro kommt in Brasilien an die Macht – und vielleicht bricht ein Bürgerkrieg aus. Das würde auch global eine Erschütterung geben. Niemand wünscht sich das, aber solche Ereignisse sind nicht vorherzusehen.

Man steht über­all im Zentrum.

Sie beschreiben die Situation für öffent­liche Intellek­tuelle als aporetisch. Es gibt womöglich nur zwei Varianten, damit umzu­gehen: Entweder die Philo­sophie gestaltet sich apolitischer und versucht, sich aus den aktuellen Entwicklungen heraus­zuhalten. Die andere Variante wäre, was ja auch von ihren mittel­baren Kollegen praktiziert wird, sich einer Sprech­praxis zu unterwerfen, die die Risiken minimiert. Viel diskutiert wurde Mit Rechten reden, ein Versuch reflexiver Aufmerk­samkeit, der den Fett­näpfchen entgehen will.

Ich halte diesen Versuch ebenso für strategisch. Das kann meiner Ansicht nach nicht gelingen. Egal wie man sich anstrengt.
Die Philosophie steckt in einer schwierigen Situation. Ich kann verstehen, warum man bestimmte Aussagen der Neuen Rechten nicht sogleich mit einem Aufschrei beantwortet. Das ist als strategischer Hinweis richtig, was ja die Autoren Zorn, Steinbeiß und Leo auch häufig tun. Das Ausnutzen dieser dialek­tischen Spannung; dass man dreckige Dinge sagt, worauf die Linke mit einem Aufschrei antwortet, und dadurch in den Medien die Aussagen der AfD eine Präsenz gewinnen, die sie gar nicht verdienen. Darauf also hinzuweisen, zu sagen, lasst das mal sein, lasst die mal reden, wir wollen das nicht gleich mit massivem Aufwand marginalisieren, ist schon richtig. Aber ich bin skeptisch gegenüber der grundsätzlichen Gesprächs­situation. Wenn man sagt, wir reden mit denen, glaube ich nicht, dass vorausgesetzt wird, dass sie uns überzeugen könnten. Das halte ich für einen schwierigen Ausgangs­punkt bei einem Gespräch. Wenn ich mit jemandem rede, muss ich anerkennen, dass er mich überzeugen könnte, was Habermas übrigens herrschafts­freien Diskurs nennt. Ich denke, dass die allermeisten das ausschließen. Nach allen Diskussionen bleiben sie die, die sie vorher waren.
Der philoso­phische Diskurs ist pluralis­tisch. Ich kann in einem philoso­phischen Kontext schreck­liche Dinge sagen. Philosophen haben immer schreckliche Dinge gesagt: Platon, Nietzsche, Heidegger. Aber sie haben sich selbst wider­sprochen, die andere Möglichkeit mitauf­scheinen lassen. Das ist Philosophie: auch hinhören, wenn jemand schreckliche Dinge sagt. Aber wenn jemand sagt, wir wollen von Vornherein andere Dinge ausschließen und unmöglich machen, muss ich als Philosoph abwehren. Das entspricht nicht meiner Haltung. So verstanden ist die Philosophie von Anfang an schräg gegenüber politischen Diskursen geneigt. Als Politiker müssen sie, weil sie nach Macht streben, manche Positionen marginali­sieren, ausschließen, entmächtigen. Rede ich als Philosoph mit einem Rechten, kann ich ihm in allem folgen. Nur in einem Punkt muss ich ihm immer wieder widersprechen: Es dürfen keine Exklusionsmechanismen entstehen. Inhumanität kann ich nicht dulden. Damit hat, umgedreht, der radikal Rechte – oder Linke – auch die Berechtigung zu sagen, dass er mit einem Philosophen nicht reden möchte. »Denn Sie werden ja immer sagen, ja schön, aber …«

Die Möglichkeit des gegenseitigen Sich-Überzeugens ist vor dem Gespräch bereits ausgeschlossen. Also, sagen Sie, spiegeln diese Bücher keine Ver­stän­digungs­strategien, sondern Ver­tei­digungs­strategien. Ersteren aber müsste man folgen, wollte man dieses Projekt philosophisch ernstnehmen.
Der Philosoph – solange er Philosoph bleiben will und nicht Politiker sein möchte – wird immer eine latente Apolitisierung betreiben.

Verspüren Sie nicht dennoch den Drang, auch mal eine strategische Äußerung zu wagen, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen? Oder sehen Sie sich ganz frei davon?
Ich habe auch einen marxistischen Hintergrund. Ich habe deshalb ein Verständnis von Unter- und Überbau. Ich will natürlich in mancher Hinsicht auch lebens­weltliche Vorteile ziehen. Davon kann ich mich nicht freisprechen. Ich hätte gerne eine Stimme in diesem Diskurs. Aber ich bin, vielleicht auch unbewusst, nicht bereit, alle Hemmungen fallenzulassen. Auf der stilistischen Ebene liegt mir das Strategi­sche fern. Derrida nennt das die Gebärde des Denkens. Das vergesse ich nicht.

Peter Trawny I

Sie beschreiben ja damit auch eine Vorsicht, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren. Sich keine Blöße zu geben, geben zu wollen. Auf Heidegger selbst gewendet könnte ich sagen, dass er sich die Blöße gegeben hat. Er hat selbst verfügt, dass seine Schwarzen Hefte posthum publiziert werden. Was Sie dann taten.
Ich denke, dass Heidegger 1933 den philosophischen Raum verlassen hat und »Ja« gesagt hat zur Revolution. Damit hat er sich einer politischen Dogmatik ausgesetzt – notwendigerweise, wie ich das gerade geschildert habe. Das hat seiner Biografie den größten Bruch gegeben, den er anschließend philosophisch immer wieder zu verschmerzen versuchte. Er wollte ihn wegzaubern. Es ist ihm nicht gelungen.
Ich bin durch Nietzsche philosophisch sozialisiert. Er war der erste, der mich philosophie­süchtig gemacht hat. Ich denke, dass ich vom Denkhabitus her mehr mit ihm anfangen kann als mit Heidegger. Mit Heideggers Absenz von Ironie und Humor konnte ich nie viel anfangen. Bei aller Bewunderung seiner sprachlichen Kraft, hat es immer eine Distanz zwischen uns gegeben. Diese hat sich letztlich in seinem politischen Ausdruck am stärksten gezeigt. Ich kann wenig mit dem Heidegger der Neuen Rechten anfangen, aber auch wenig mit dem dogma­tischen Heidegger. Ich lese Heidegger aus nietzsche­anischen, vielleicht auch romantischen Perspektiven, weil ich glaube, dass Heidegger kein Interesse daran hatte, eine Lehre zu formulieren. Die jahrzehnte­lange Rezeption hat uns philosophisch einen sehr schrägen Zugang eingerichtet, aus dem wir aussteigen müssen, wenn Heidegger noch irgendeine Zukunft haben soll. Wir müssen aufhören zu glauben, dass eine »Heideggersche Lehre« existiert. Ich halte dieses Denkprojekt davon geprägt, dass es genau das vermeiden wollte. Dass am Ende jemand da steht und sagt, »das ist die Philosophie Heideggers«. Das wollte er nicht. Das gibt es nicht.

Also ist schon der Appell irritierend, der mit dem Erscheinen der Schwarzen Hefte laut wurde, dass man seine Lehre vor seinen anti­semitischen Teilen retten müsse?
Ja. Wer die antisemitischen Äußerungen als Problem ernst nimmt, kann sie nicht von seinem Denken isolieren. Zumal dieses Denken ja so gar nicht existiert, muss man sich eine Auslegungsform überlegen, um damit klarzukommen.

Es gab und gibt einen Heidegger-Kult, auch in der Akademie. Ein Sich-Versteifen auf seine Lehre. Als die Schwarzen Hefte veröffentlicht wurden, mussten Heideggers Leser:innen damit einen Umgang finden. Der damalige Präsident der Heidegger-Gesellschaft, Günther Figal, ist im Zuge der Veröffentlichung ausgetreten. Es wurden Einführungen umgeschrieben, die »weißen Hefte« vom Junius-Verlag. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kenne ja die Ereignisse hinter den Kulissen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich hätte in dieser Situation anders reagiert. Ich hätte als Präsident der Heidegger-Gesellschaft gesagt: Wir machen direkt eine Konferenz ausschließlich zu den Schwarzen Heften. Wir beschäftigen uns tiefgreifend und kritisch damit, gestalten, meinetwegen in Freiburg, einen ersten Ort der wirklichen Äußerung zu diesem Problem. Dieser Rückzug – was soll das? Niemand hätte Günther Figal damit in Verbindung gebracht …

… im Sinne von: Weil er auf dem Lehrstuhl sitzt, ist er jetzt auch Nazi …
… niemand hätte das gesagt. Ganz im Gegenteil: Er hatte Zugang zur Logistik für Veränderung, die Heidegger-Gesellschaft hat sie immer noch. Und bis heute gab es diese Tagung nicht. Große Tagungen fanden in Paris statt, in den Vereinigten Staaten. Aber nicht hier. Deswegen kann ich mich in die Person Figal nicht hineinversetzen. Es erscheint mir irrational. Niemand hätte seine moralische Integrität angezweifelt, wenn er so eine Konferenz angegangen wäre. Man wäre ihm dankbar gewesen.

Sie schreiben Bücher über Heidegger. Werden Sie angefeindet?
Die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte und auch einiger Begleittexte von mir haben dazu geführt, dass die Heidegger-Forschung fragmentiert ist. Wenn Sie das Buch von von Herrmann und Alfieri lesen, Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte, dann lesen Sie persönliche Anfeindungen gegen mich. Ich hätte die Veröffent­lichung nur für Geld forciert und um eine bezahlte Stelle zu bekommen. Von Herrmann entschuldigt sich sogar dafür, mich vormals in die Heidegger-Forschung eingeführt zu haben. Das steht tatsächlich in diesem Buch.
Was soll ich dazu sagen? Ich hatte jahrzehntelang mit von Herrmann gut zusammen­gearbeitet. Ich habe seine Heidegger-Auslegung nie geteilt, weil sie mir zu dogmatisch ist. Aber nur, weil ich mit jemandem zusammen­arbeite, heißt es ja nicht, dass ich mich in jeder Hinsicht seiner philosophischen Position unterwerfe. Aber auch von anderer Richtung, von der Emmanuel Faye-Ecke, verstehe ich viele Dinge nicht. Ich rätsele immer noch, was sie damit bezwecken wollen. Wollen sie das Heideggersche Corpus als philosophischen Text disqualifizieren? Sie sagen darauf ja entschieden »Nein«, aber im nächsten Augenblick folgt ein weiterer, moralisch motivierter Versuch zu zeigen, dass Heidegger sich persönlich in das Motiv der Endlösung verstrickt, was keineswegs bewiesen werden kann.
Natürlich wurde ich auch von ihnen als verkappter Dogmatiker dargestellt. Es gibt tatsächlich ein ins Deutsche übersetzte Buch mit dem Titel Der Fall Trawny, immerhin bei Turia & Kant erschienen. Das ist kurios. »Der Fall«, das hat was Kriminalistisches.

Peter Trawny II

Ziehen wir das zusammen, steht Ihr Buch auf zweifach schwankendem Grund. Es gibt einmal das unterstellte Problem, Heidegger überhaupt, auf diese Weise wie sie es tun, zu rezipieren. Das verändert sich vielleicht erst, wenn man ins Ausland geht. Das andere Problem ist die Stilfrage. Wie über Heidegger sprechen? Wenn Sie über den Atlantik fliegen oder nach Paris fahren, können Sie dort anders sprechen?
Ich bin akademisch immer viel gereist. Dort gab es diese Probleme nicht, die ich in Deutschland habe. Mit meinem neuen Buch ist das eine andere Sache: Man kann diesem Buch unmöglich zu viel Sympathie für Heidegger unterstellen. Ich spreche normalerweise nie positiv über meine Bücher, aber ich behaupte einfach mal, dass dieses Buch philosophisch betrachtet sehr interessant und gut ist. Das haben mir auch meine ersten Leser fast schon euphorisch versichert. Hier kann niemand sagen, der Mann versucht, Heidegger wieder stark­zumachen. Ich schreibe ja sehr kritische Dinge über ihn. Also muss ich annehmen, dass die Form des Buches bei manchen den Reflex der Ablehnung auslöst. Das enttäuscht mich, denn ich frage mich: Mit welcher Haltung liest man heutzutage philoso­phische Bücher?
Eine bestimmte Komplexitäts­schwelle möchte ich nicht unterschreiten. Wer diese verweigert, wer sagt, dass sei ein subjektives, ein ironisches, zu komplexes Buch, versteht nicht, dass die Aus­einander­setzung mit einem Philosophen erfordert, dass man sich philosophisch exponiert, weil man sonst das ganze Ereignis nicht verstehen kann. Das Unversteh­bare gehört konstitutiv zum philosophischen Denken hinzu. Wer das durchstreicht, streicht auch die Philosophie durch. Philosophie bedeutet, Probleme zu formulieren, was heißt, noch nicht Verstandenes zu artikulieren. Zu populari­sieren, in dieser Hinsicht strategisch zu denken, halte ich für eine unphilo­sophische Position. Außerdem habe ich keine Lust, bloß als Heidegger-Exeget aufzutreten. Ich will eine eigene Stimme haben.

Aber nochmal die Frage nach dem Stil. Sie sind ja nicht in erster Linie Biograph, Sie sind in erster Linie Philosoph. Also: ein Philosoph, der Biografien schreibt. Heidegger-Fragmente, so heißt Ihr Buch, und das ist programmatisch gemeint. Sie sehen in Heidegger ein fragmentarisches Denken. Und Sie schreiben selbst in fragmentierten Episoden, Sie schreiben literarisch. Ihrem Buch ist dann ein Satz von Clarice Lispector vorangestellt: »Ich denke nämlich, dass Literatur nicht Literatur ist, sondern das Leben, das lebt.« Warum dieser Satz?
Es gibt viele Gründe. Ich habe sogar ein Buch von Clarice Lispector mitgebracht. Als hätte ich diese Frage geahnt (lacht).

Peter Trawny greift in die äußere Mantel­tasche und zieht ein mit Pergament um­schla­ge­nes Buch mit weichem Einband heraus.

Eine Lehre oder Das Buch der Lüste, das ist der Titel.
Es gibt eine Passage, die ich gleich vorlese. – Aber kurz noch zu meinem Buch: Die These meines Buches ist, dass man in Heidegger keine Lehre, keine Doktrin, keine Philosophie ausmachen kann, sondern dass es in seiner Philosophie vor allem um eins gegangen ist: um Heidegger selbst. Die Akademisierung seines Denkens ist ein Missverständnis gewesen.
Ich versetze ihn nun in einen Bereich, den man Kunst, Literatur, meinetwegen auch Dichtung nennen kann. Das lässt sich in seiner Biografie zeigen. Von Anfang an hat er versucht, sein Denken zu personalisieren, zu signieren (Derrida). Er hat von Anfang gesagt: Das ist meine Stimme und sie äußert sich hier philosophisch und diese Philosophie hat wieder eine Rückwirkung auf mein Leben. Man kann an vielen Beispielen zeigen, dass Heidegger das tatsächlich geschafft hat. Selbst in das Bett seiner Geliebten, von der es ja mehrere gab, hat er sich als Philosoph hineingelegt. Die Leute, mit denen er zu tun hatte, haben das geglaubt. Das versuche ich in einer reflexiven Position literarisch darzustellen. Ich möchte keinen objektivierenden Diskurs vollziehen, also unliterarisch über ein literarisches Phänomen schreiben. Ich wollte reflexiv eine Annäherung bringen, die sich mit Lispectors Satz einleiten lässt.
Ich verstehe den Satz übrigens nicht so, dass sie sagt, es gäbe keine Literatur und nur das Leben, das lebt. Ich verstehe ihn so: Literatur ist Leben, das lebt. Das zwingt uns, wenn wir Dialektiker sind, zu verstehen, was an der Literatur das Leben ist, das lebt. Das, glaube ich, kann man gut an Heidegger zeigen. Und nur als Parenthese: Lispector ist sicher eine der wichtigsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Man kann in ihrem Werk Denkfiguren finden, die stark an Heidegger erinnern, ohne dass man in irgendeiner Weise eine Heidegger-Rezeption voraussetzen darf. Das zeigt auch, dass Heideggers Denkentwurf nicht urdeutsch ist, sondern auch in einer Sprache Figuren zum Ausdruck gebracht werden – im brasilia­nischen Portugiesisch –, die heideggerianisch sind.
Ich möchte nun vorlesen.

Da befremdete sie sich vor sich selbst. Und das schien sie in Taumel zu bringen. Sie selbst war im Befremden im Sein. Indem sie sogar riskierte, dass Ulisses es nicht verstände, sagte sie, recht leise: ›Ich bin im Sein.‹ ›Bitte?‹, fragte er auf dieses Flüstern von Loris Stimme hin. ›Nichts, es ist nicht wichtig.‹ ›Es ist wohl wichtig, würdest du es bitte wiederholen?‹ Sie wurde demütiger, weil sie den befremdlichen und verzauberten Augenblick, als sie im Sein war, schon verloren hatte. ›Ich habe dir gesagt, Ulisses, ich bin im Sein.‹ Er musterte sie, und für einen Augenblick befremdete sie ihn, dieses vertraute Frauen­gesicht. Er befremdete sich und verstand Lori: er war im Sein. Sie blieben stumm, als hätten sich die zwei das erste Mal getroffen. Sie waren im Sein.« Und: »Und es bestand keine Gefahr, dieses Gefühl mit der Angst, es zu verlieren, zu verausgaben, weil Sein unendlich war, von einem Unendlichen der Wellen des Meeres. Ich bin im Sein, sagte der Baum im Garten. Ich bin im Sein, sagte der Ober, der herankam. Ich bin im Sein, sagte das grüne Wasser im Schwimm­becken. Ich bin im Sein, sagte die blaue See des Mittel­meeres. Ich bin im Sein, sagte unser grünes trügerisches Meer. Ich bin im Sein, sagte die Spinne und machte die Beute mit ihrem Gift unbeweglich. Ich bin im Sein, sagte ein Kind, das auf den Fliesen ausgerutscht war und erschreckt: Mama! gerufen hatte.

Solche Stellen gibt es häufiger, in denen sie das Wort »Sein« in diesem Sinne verwendet und eine Erfahrung zur Sprache bringt und die Sprache darauf eingeht. Das erinnert – wenn es so etwas gibt – an eine Heideggersche Erfahrung. Das finde ich faszinierend, weil es keine belegbare Rezeption Lispectors von Heidegger gibt. Für mich zeigt das: Heidegger kann zur Welt­literatur gehören. Er ist nicht nur der Philosoph, der seine Todtnauberger Mit­kameraden verzaubern und begeistern kann. Deswegen habe ich das Buch mit dieser Schrift­stellerin eingeführt.

Sowohl Nietzsche, mit dem sie ja philosophie­süchtig geworden sind, aber auch Heidegger sind ja eher rand­ständige Figuren. Sie haben eine starke eigene Stimme. Das ist im gegenwärtigen Philosophie­betrieb seltener der Fall. Menschen, die einen eigenen Gestus erproben. Täte das der deutschen Philosophie gut?
Ja, unbedingt. Ich weiß gar nicht, ob ich das bewusst mache, aber ich selbst kann es gar nicht anders tun. Wir brauchen unkonventionelle Gestalten, Leute, die am Rande stehen. Man sollte diesen Stimmen mehr zuhören. Ich denke, dass der Rand eine gute Position fürs Schreiben, Dichten, Denken ist. Besser als das Zentrum.
Eduard von Hartmann, zum Beispiel, war zu Nietzsches Zeiten der Richard David Precht von heute. Ein Bestseller-Autor. Der spielt keine Rolle mehr. Irgendwelche Historiker des 19. Jahrhunderts können sagen, der hat das und das gemacht. Aber er ist kein Philosoph, der sich mit der Rezeptions­geschichte Nietzsches vergleichen ließe. Die Zeiten haben sich vielleicht verändert und die Rand­ständigkeit gibt es aufgrund sozialer Medien nicht mehr auf diese Weise. Was nennt man noch Rand? Wie kann man nicht im Zentrum stehen? Man steht überall im Zentrum, weil sich die Topologie, die Räumlichkeit des Lebens verändert hat.
Aber ich teile Wolfram Eilenbergers Akademie­kritik. Auch an den heutigen Universitäten haben es die Leute schwer, die schräg zu den Themen oder Methoden stehen. Sie finden kaum Anschluss, wenn sie irgendwelche Drittmittelprojekte formulieren müssen. Bis in die Substanz – oder in die Fibern, wie es Adorno sagt – der Ausdrücke, die sie verwenden, müssen sie sich kon­ven­tionalisieren. Sie wissen, dass sie gefallen müssen. Diese Schablonen müssen sie beherrschen. Wenn sie das habituali­sieren, was soll dabei rauskommen? Sitzen sie zehn Jahre in dieser Mühle, wird daraus kein Philosoph herauskommen, der noch sagt, die bestimmte Negation (Hegel, Adorno), die müssen wir einüben. Das Nein müssen wir einüben. Aus dieser Mühle kommt aber immer jemand raus, der auf sehr clevere Art und Weise »Ja« sagt. Das ist das Ende der Philosophie und der Dichtung. Nehmen Sie so einen Dichter wie Jan Wagner. Er hat den Büchnerpreis gewonnen und wird in den großen Feuilletons abgefeiert. Das können sie doch nicht mit jemandem wie Celan in Verbindung bringen, mit diesem poetologischen Anspruch. Es ist kurios, dass selbst in der Dichtung eine gute Laune präsentiert wird, die bei einem mit der Dichtung vertrauten Leser nur Ratlosigkeit hinterlässt. Dieses Segment einer anerkannten, hermetischen, esoterischen Sprechform wird weggestrichen. Das finde ich bedenklich.

Sie sprechen gerade nicht als ein Philosoph, der in fremden Gebieten wildert. Sie sehen sich in ihnen ebenfalls zuhause. Sie haben 1996 über Rilke einen ihrer ersten Aufsätze veröffentlicht, sie setzen sich mit Fragen der Ästhetik und Literatur aus­ein­ander. Aber drehen wir uns nochmal zur Philosophie und zum Gegenpunkt von Precht, der sicherlich das öffentliche Denken über Philosophie in Deutschland maßgeblich orchestriert. Sie schreiben: »Der einzige Philosoph in Deutschland, der in den letzten 30 Jahren Heideggers Denken wirklich voran­getrieben hat, ist Peter Sloterdijk.« Sloterdijk macht, was man machen müsste?
Ich muss mich erklären. Sloterdijk verkörpert jenen Individualismus auf der Suche nach der eigenen Stimme. Das habe ich gerade beschrieben. Seit der Kritik der zynischen Vernunft setzt er das fort. Er hat das erfolgreich gemacht, mit großen Verkaufszahlen sogar. Und er ist bis heute solitär geblieben. Das kann man fast jedem seiner Interviews entnehmen. Er hat die Fähigkeiten, diesen Solitär-Ort in Anspruch zu nehmen und erotisch anziehend zu sein für ein spezifisches Publikum.
Seine Texte über Heidegger, zum Beispiel, stehen am Rand der Heidegger-Forschung. Sloterdijk ist bis heute akademisch nicht konsolidiert. An den Universitäten ist man skeptisch. Er ortet aber mit einem philosophischen Instinkt Probleme bei Heidegger, die uns weiter­bringen. Und dabei ist er nicht derjenige, der alles von Heidegger gelesen hat. Er ist kein Heideggerianer. Darin besteht der Unterschied zwischen einer philosophischen und akademischen Aneignung.

Sie haben gesagt, dass die Philoso­phien, die heute noch en vogue sind, zu ihrer Zeit kaum eine Rezeption gefunden haben. Wäre Ihnen Nachruhm wichtiger als der gegenwärtige?
Ich denke, dass das so gar nicht formuliert werden kann. Ich bin in dieser Hinsicht zutiefst menschlich und freue mich über ehrliche Anerkennung. Bei Adorno, beispielsweise, und der Rezeption der Minima Moralia, sagen viele Leute heute darüber, dass das Buch zu komplex sei und dadurch unlesbar. In den 1950er Jahren war es aber erfolgreich. Adorno hat es geschafft, die Rand­ständigkeit zu popularisieren, ohne dabei seinen Stil aufzugeben. Das fasziniert mich. Sloterdijk macht das auch.
Für mich ist es eher rätselhaft, wie die Rezeptions­geschichten der Philosophien verlaufen. Ein Buch wie Also Sprach Zarathustra, was in den vergangenen 100 Jahren 15-Jährige gelesen haben, war zu Nietzsches Lebzeiten völlig erfolglos. Und wir wissen nicht, warum.

Anstößig­keit ist kein Argument gegen das Denken.

Wir haben das Gespräch begonnen, indem wir Sie durch Heidegger gelesen haben. Ist Ihnen das angenehm?

Eigentlich nicht. Nietzsche war ja der erste Denker, der mich philosophisch geprägt hat. Ich habe viel geschrieben, das kaum mit Heidegger zu tun hat. Über Derrida habe ich geschrieben. Derrida hat zwar viel mit Heidegger zu tun, aber er hat natürlich eine eigene Stimme. Ich habe über Marx geschrieben und mich mit Fragen der Ökonomie auseinandergesetzt. Das findet man bei Heidegger ja überhaupt nicht, er hatte kein Interesse an Soziologie oder Ökonomie. Ich vertrete auch nicht diesen poetischen Kanon, den Heidegger hatte. Für mich ist Hölderlin nicht alles.
Es stimmt zwar: Medial betrachtet bin ich mit den Schwarzen Heften in Erscheinung getreten. Ich kann das also verstehen, mich über Heidegger zu lesen. Wer aber ein Interesse an mir entwickelt – das ist ja kein Muss –, der würde sehen können, dass ich ein Buch über Marx geschrieben habe, über Arendt. Und, ganz anders als Heidegger (lacht), habe ich mich mit der Frage der Shoah beschäftigt.

Das heißt, gerade der Philosoph als Bio­graf bricht unweigerlich mit der Bio­grafie, die er schreibt. Sie sprechen in ihrem Buch von der Symbiografie. Diese meint zunächst den Anspruch, Heideggers Leben und Werk symbiotisch zusammen­zu­lesen. Die zweite Lesart wäre, dass auch dieses Buch selbst eine Symbiose aus Peter Trawny und Heidegger ist. Und diese Sym­biose markiert damit auch einen Bruch, einen freundlichen Bruch.
Das ist gut, dass Sie das sagen. Sie haben verstanden, es ist mein reflexiver Anspruch des Buches. Jeder Biograf ist Autobiograf. Nicht bei den Historikern, die dem methodischen Ideal der Objektivierung folgen. Arbeiten Sie allerdings philosophisch – und ich meine, Philosophie lässt sich nicht objektivieren – sind Sie als Philoso­phierender immer ein Student, der anfängt. Sie sind als Person involviert. Der Versuch, das Denken von sich abzuspalten, führt zu Konventionalismen. Man gerät dann in eine Maschine, in der man nicht mehr philosophiert, sondern Forschungs­projekte formuliert. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit Philosophie zu tun. Kein großes Buch lässt sich in irgendeiner Weise als Forschungs­projekt umformulieren. Sie können ja nicht sagen, Platons Forschungs­objekt waren die »Ideen«. Oder Nietzsches Projekt war »Der Wille zur Macht«. Das ist Quatsch.
Wir, als Philosophierende, sind miteinbegriffen in das, was wir tun. Dieses Buch ist ein persönliches Buch. Ich weiß auch nicht, in welcher Weise ich mich über Heidegger noch äußern werde. Vielleicht ist es das letzte Buch über Heidegger, denn weiter kann ich das nicht mehr treiben. Zurückzukehren zu irgendwelchen akademischen Auseinander­setzungen interessiert mich eher nicht mehr. Davon habe ich mich offenbar entfernt.

Peter Trawny III

Sie haben gesagt, ein philosophisches Programm ereignet sich immer retrospektiv. Also in der Rückschau wird man sagen können: In diesem Buch hat sich Peter Trawnys Programm abgezeichnet.
In meinem Buch zeigt sich eine bestimmte Hermeneutik. Ich glaube, dass die Annäherung an irgendeine Biografie, also auch an die eigene, fragmentarisch ist, sein muss. Es wird uns nicht gelingen, eine Biografie als durchgängige Einheit zu erzählen oder sogar zu leben. Die Brüchig­keit des eigenen Lebens fällt notwendig auf eine fragmentarische Perspektive zurück. In einem einheitlichen Sinn lassen sich keine Lebens­ereignisse zusammenziehen. Heideggers Versuch, sein Leben wie einen schön gerundeten Kiesel vor uns auszubreiten, ist von Anfang an eine Selbstlüge. Das kann nicht gelingen. Er hat es irgendwie geschafft, sein aus den Fugen geratenes Leben im Griff zu haben. Aber es hat ihn sehr viel Überzeugungskraft gekostet.

Wenn man diese Hermeneutik ernst nimmt, gewinnen die von Ihnen genannten Namen als Fluchtpunkte Ihres Denkens eine ganz andere Bedeutung: Adorno, Nietzsche, Derrida. Alles Autoren, die, anders als Heidegger, schon in der Form, der Textform, dem nahe kommen, was sie beschreiben.
Das stimmt. Ich würde mich allen Autoren stilistisch und in dieser Hinsicht philosophisch sehr nahe fühlen. Näher als Heidegger. Gerade Adorno, der mir auch in seinem musik­ästhetischen Hinter­grund sehr nahe ist. Ich habe ja selbst Musik­wissen­schaft studiert und musste mich entscheiden, ob ich Komposition weiterstudiere. Von daher, von der Musik aus, zieht mich Adorno sehr viel stärker an als Heidegger. Die Philosophie der neuen Musik ist für mich ein wirklich wichtiges Buch. Was wollen Sie mit »neuer Musik« bei Heidegger? Auch deswegen ist Heidegger mir eigentümlich fremd.

Wir profitieren von der Unterhaltung, die vor dem Gespräch stattgefunden hat. Wir hatten über Adorno gesprochen und das heißt, über die Frankfurter Schule. Und obwohl sie Adorno lesen, ihn schätzen …
… ich habe übrigens über Adorno geschrieben. Was ist deutsch? ist eine Interpretation des späten kleinen Textes, den Adorno als einen Radiovortrag verfasst hat.

… und obwohl Sie das tun, fremdeln Sie mit dem Erbe der Frankfurter Schule.
Ich hatte das einmal in dem Satz komprimiert, dass Philosophie im guten Sinne anstößig sein sollte. Ein Philosoph, und hier sind wir wieder beim Strategischen, kann durchaus schreckliche Dinge sagen. Ich bin mir sicher, dass sich im Haber­masschen Ouevre kein Satz finden lässt, der unanständig ist. In dieser Hinsicht wird er der erste Philosoph sein, in dem vergeblich danach gesucht wird, dass er aus seiner Vernunft heraus­fällt. Diesen Zugang halte ich für extrem unphilo­sophisch. Ich halte das für wissen­schaftlich, rationalisiert, kontrolliert. Insofern aber auch: Verrat an Adornos Erbe. Adorno war ein Kopf, der die Anstößig­keit nicht als Argument gegen das Denken verstanden hat.
Ich weiß nicht, inwiefern das Habermas und Honneth bewusst tun. Aber sie haben eine Verwissen­schaftlichung und Akademi­sierung des Adornoschen Entwurfs bewirkt, der eigentlich darauf hinausläuft, dass sich der Diskurs isoliert und wahrscheinlich, wenn ich das sagen darf, mit dem Abtreten dieser Gestalten vergessen sein wird. Ich glaube nicht, dass die Theorie der kommunikativen Vernunft außerhalb der Habermas-Forschung, also einer weltweit zwar lebendigen, aber isolierten Gruppierung, noch eine Rolle spielen wird.
Das ist natürlich eine heftige These. Aber ich glaube, das ist, was die Frankfurter Schule gemacht hat. Auch in der Diskussion mit der Neuen Rechten spielt die Frankfurter Schule doch keine Rolle. Außer, dass es irgendwelche Fest­vorträge gibt, in denen die Einheit Europas beschworen und Macron unterstützt wird, gegen Merkel. Na gut, aber das hat kaum einen diskursiven Effekt. Man redet vielleicht noch zwei Tage darüber, nachdem es in der Zeit erschienen ist. Und dann verpufft es.

Das Kriterium, das Sie hier anlegen, ist dann aber keines der wissen­schaftlichen, sondern der öffentlichen Relevanz.
Unter dieser Devise ist ja die Frankfurter Schule initial angetreten. Adorno war jemand, der bewusst eine Öffentlichkeit besetzen wollte. Übrigens auch, um Heidegger aus dieser Öffentlich­keit herauszuhalten. Also in einer bewussten Abgrenzung gegenüber Heidegger. Das hat Adorno bewusst getan, um als Philosoph in der Bundes­republik eine tragende Rolle zu spielen. Ich kann das nur begrüßen. Gut, dass es Adorno war und gut, dass es Heidegger nicht geschafft, die Öffentlichkeit nach seinen Maßgaben zu errichten. Adorno hat das überzeugend erfüllt. In der heutigen Frankfurter Schule suche ich danach vergeblich. Auch, weil man von den wissen­schaftlichen Standards nicht ablassen will, die einen wiederum von bestimmten Denk- und Diskursformen ausschließen.

Was Sie fordern, ist eine Marktunförmigkeit.
Man sollte Wildheit und Brüchigkeit zulassen. Das Strategische, das Gegenteil, hat Habermas institutionell durchgezogen. Habermas hat Akademiepolitik betrieben. Er hat bewusst darauf gesetzt, dass bestimmte Stellen stumm bleiben. Und seine Begegnung mit Derrida. Das, was ihn an Derrida abgestoßen hat, ist das, was Derrida heutzutage anstößig macht: seine Nähe zu Heidegger. Das hat Habermas nicht verstanden, warum Derrida den Heidegger so wichtig nimmt. Und interessanterweise war der junge Habermas selbst Heideggerianer. Er hat in Heideggers Sound geschrieben. Das hat sich erst 1953 mit Heideggers Einführung in die Metaphysik gewendet. Habermas hat davor Sein und Zeit für das Größte gehalten, was in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts passiert ist.

Warum ist er dann abgerückt?
In der eigenen Interpretation von Habermas ist diese Vorlesung, Einführung in die Metaphysik, der Wendepunkt. Heidegger äußert darin den Satz der »inneren Wahrheit und Größe der Bewegung«. Er meint damit die national­sozialistische Bewegung. Das hat Habermas schockiert. Das glaube ich ihm: An diesem Punkt ging es für ihn nicht mit Heidegger weiter. Dazu kommt der Einfluss Adornos. Für Adorno war Heidegger bis ins Äußerste faschistisch gewesen. Als Adorno-Schüler musste sich Habermas von Heidegger abkehren.

Wir haben über das Deutschsein gesprochen. Und es gibt ja heute wieder die Diskussion, was eine Leitkultur sein könnte und ob diese überhaupt sinnvoll sei. Gibt es eine deutsche Leitkultur?
Der Begriff Leitkultur ist mindestens missverständlich und deshalb auch nicht hilfreich. Aber natürlich würde ich sagen, dass es etwas Deutsches gibt. Deswegen auch mein Rekurs auf den Adorno-Text »Auf die Frage: Was ist deutsch«. Darin ignoriert Adorno nicht – wie andere der Frankfurter Schule –, dass es etwas Deutsches gibt. Er affirmiert es. Und entwickelt dann die Denkform einer negativen Identität im Verhältnis zur Shoah. Er sagt, ja, es gibt etwas Deutsches, auf das wir rekurrieren und wovon wir uns, historisch betrachtet, nicht abspalten können. Der Bezugspunkt bei Adorno ist Wagner. Wir können nicht einfach sagen, wir leben ausschließlich kosmo­politisch. Natürlich tun wir das auch und wir müssen beide Sphären im Blick behalten.
Jedes Deutschsein, das auf Exklusion drängt, vielleicht sogar auch noch einen ethnologischen Kern hat – etwas »Bio­deutsches« –, es also so wenden will, dass das Fremde von der Heimat exkludiert wird, ist ein kranker Traum. Das ist tatsächlich ein kranker Traum, weil er auf eine Unfrucht­barkeit hinausläuft. Das ist kultureller Inzest. Und es ist zugleich, dialektisch gesehen, das Ende des Deutschseins, das immer in der Bewegung, in der Begegnung im Verhältnis zum Fremden entwickelt werden muss. Man wird Wagner nicht verstehen ohne sein Verhältnis zu Paris. Und so weiter.
Das ist nicht Leitkultur, aber Verant­wortung für die eigene Geschichte, der wir uns, gerade bei der Shoah, immer noch stellen und stellen müssen. Diese Verantwortlichkeit kann darin bestehen, es sein zu lassen, im Sinne von in seiner Existenz anerkennen. Übrigens auch bei Heidegger: Das ganze deutsche Gewese muss ich aushalten, auch durch­denken. Aber nicht übernehmen. Heideggers strategische Momente und seine Exzentri­täten darin erkennen und gleich­zeitig damit brechen. Das ist die komplizierte Antwort auf ihre Frage. »Ja, aber…« Es gibt eine Verantwortung im Sinne einer Antwort auf diese Frage.

Wir wollen Mittagessen und steigen hinab. Auf unserem Weg zum Leih­wagen laufen wir einer Gruppe Jugend­licher durchs Bild, die sich auf ihren Longboards gegen­seitig filmen. Wir gehen in eine Pizzeria. Peter Trawny isst Baby-Calamari: »Ist das politisch korrekt?« Wir sprechen zur prekären Situation des Studierens in Deutschland und auch über Jacques Derridas Unbedingte Universität. Wieder auf dem Teufels­berg halten wir vor einem gelben Bagger. Wir schießen Bilder. »Der Bulldozer scheint mir ergiebig«, sagt Peter Trawny.
Nach Abschluss der Schule arbeitete er im Bergbau. Wind gibt es dort. Heiß ist es. Das Duschen mit Berg­leuten ist eine »Eigentüm­lichkeit«. Wie schon sein Vater und Großvater sollte auch er das werden. Erst mit seinem Stipendium änderten sich die Blicke auf ihn. Peter Trawnys eigene Geschichte ist abwegig.
Das Aufnahme­gerät läuft noch nicht. Wir sind am selben Ort und doch in einem anderen Raum. Der Grund, auf dem wir sprechen, ist nach dem Vormittag aufge­brochen. Der unheil­bringende Schatten Heideggers steht am Rand.

Peter Trawny IV

Ich kann nicht Urlaub machen von der Philosophie.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Bücher, gerade aus Frank­reich, die den akade­mischen Aufstieg wahlweise als Ent­fremdungs- oder als Emanzi­pations­geschichte erzählt haben. Oft als beides. Ist das auch Ihre Geschichte?

Ja. Ich teile mit Didier Eribon zwar nicht die Homosexualität, die zentral auch für seine Rezeption gewesen ist. Aber ich konnte diese Texte von Eribon sehr gut nachvollziehen. Sein nicht-akademischer Hintergrund spielt nach wie vor eine Rolle, auch im deutschen akade­mischen Kontext. Im Akademischen und auch darüber hinaus, im kulturellen, feuilletonis­tischen Bereich, bestehen bis hin zur Kleidung Schwierig­keiten mit dem Konventions­bruch. Jemand, der nicht von vornherein dazu­gehört, hat es schwer, mitzu­spielen. Vor allem, wenn er nicht »einfach« nur mitspielen will, weil er die Spielregeln von Vornherein nicht akzeptiert.

Wollten Sie mitspielen?
Selbstverständlich wollte ich mitspielen. Allerdings habe ich den Aufklärungs­gedanken – den Aufruf zur Mündigkeit – immer so verstanden, dass ich anders sein darf. Aber natürlich gibt es noch immer wirksame Filter, die beispielsweise Frauen und Menschen aus bildungs­fernen Schichten fernhalten. Übrigens bestehen dort Verbindungen. Deshalb ist der teilweise vorzufindende Front­verlauf irreführend, der von manchen Feministinnen vorgetragen wird: Mit manchen Positionen hat man sich solidarisiert, mit anderen war es unmöglich.

Was heißt das?
Die Diskussion zwischen Judith Butler und Luce Irigaray, und das ist nur ein Beispiel, war damals mit der Hoffnung verbunden, dass durch einen solchen Diskurs sich etwas ganz anderes institutiona­lisieren ließe. Etwas ganz anderes, das heißt: etwas, das sich manifest vom maskulinen Herrschafts­typus unterscheidet. Das verbindet sich ja mit dezidiert linken, anti-kapitalistischen Positionen. Inzwischen aber glaube ich, dass sie lernen mussten, dass ihre Position nur eine unter anderen ist. Die Diskussion ist dorthin gerutscht, wo man akzeptiert, dass die Welt des Kapitalismus nun einmal so ist und dass man als Frau, genauso wie die Männer, mitspielen möchte. In den Universitäten führt das zu Macht­kämpfen. Der Utopieg­ehalt wurde an der feminis­tischen Position weggeschnitten und man musste akzeptieren, dass es zunächst nur darum geht, dass bestimmte männliche Rollen von Macht und Herrschaft genauso gut von Frauen ausgeführt werden können. Das Projekt ist dadurch auf einer intellek­tuellen Ebene für mich langweilig geworden.

Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass die Rechten immer schon einen Vorteil haben. Denn wenn sie sich daneben benehmen, fällt es ihnen nicht auf die Füße. Dem Grünen-Politiker Kretschmann wurde vorgehalten, dass er einen Mercedes fährt. Weil er Grüner ist, darf er keinen Mercedes fahren. Das würde einem Rechten nie passieren. Glauben Sie, dass die rechte Position in der Lebenswelt einfacher ist? Und umgedreht: Haben es die Linken schwerer?
Ich würde die letzten 20 Jahre der Bundesrepublik so lesen, dass die bis dahin unbefragte Vor­herrschaft links­liberaler Ideen angetastet wurde. Es hat sich bei den Linken eine Unaufmerk­samkeit breitgemacht, die letztlich ihre moralische Integrität beschä­digt. Die linke Theorie setzt aber in besonderem Maße auf moralische Integrität. Denken wir an Lenin oder Che Guevara oder Ulrike Meinhof. Es ließe sich lebens­weltlich überhaupt nicht rechtfertigen, dass sie in einer Villa und mit Chauffeur lebten. Das passt nicht zum revolutionären Lebens­entwurf. Es gehört sich, dass man Theorie und Praxis in Deckung bringt. Ich habe aber den Eindruck, dass gerade das aus den Fugen geraten ist. Das Zerbrechen der moralischen Integrität wird den Linken nun vor die Nase gehalten.

Ist diese Form der Moralisierung ein Problem? Führt das dazu, dass unter dem Beschnitt politischer Korrektheit die These nicht in ihrer notwendigen Schärfe formuliert werden kann?
(Zögert lange) Ich weiß es nicht. Welche Rolle Authentizität im Politischen überhaupt darstellt – das ist eine sehr schwierige Frage.

Vielleicht anders: Wir haben über linke und rechte Probleme isoliert gesprochen. Nun könnte man aber sagen, dass sich die Frage der Moral in beiden Lagern oder in beiden Horizonten auf ähnliche Weise artikuliert.
Welche Rolle soll das Moralische im Politischen spielen? Geht die Moralisierung einer Frage auf Kosten ihrer politischen Realität? Es ist unabweisbar, dass Identitäts­politik sich notwendiger­weise auf ein moralisches Kriterium berufen muss. Wie soll man Identität anders auch rechtfertigen? Alles was unter Feminismus, Rassismus etc. verhandelt wird, kann ohne moralische Fragen gar nicht auskommen. Diese Diskurse lassen sich nicht objektivieren und systematisieren. Wir müssen alle Fragen durchdeklinieren.

Geschieht das?
Ja – die Links-Rechts-Diskussion sehe ich davon maßgeblich geprägt. Von der linken Seite gibt es einen hohen Morali­sierungs­grad, von der rechten einen hohen Pragm­atisierungs­grad. Der gilt als immoralisch. Es gibt aber auch eine rechte Moralisierung, die gefährliche Dimensionen erreicht. Will ich das Deutschsein, Weißsein als Identitätsbegriff legitimieren, muss ich moralische Kriterien in Anschlag bringen. Das ist gefährlich.

Kopieren wir diesen Fragen­komplex und fügen ihn in den Raum der Universität ein. Dort sind Sie nicht nur Beobachter, sondern ein maximal Beteiligter. Es werden komplexe Konflikte ausgetragen zwischen denen, die sich größere Freiheit wünschen und anderen, die an konven­tionellen Formen festhalten. Ein Beispiel von vielen. Die feudale Struktur der Universität bezeugt eine Autoritätspolitik, die von den Studierenden stark kritisiert wird. Halten Sie ihre momentane Strukturierung, das geringe Maß an Durchlässigkeit, für zeitgemäß?
Ich denke, dass das Selbst­verständnis der Universitäten selbstverständlich keine Feudal­struktur vor sich herträgt. Ganz im Gegenteil. Seit der Reformierung aus den 60er-Jahren existiert ein Selbstbild, in dem man tatsächlich an eine hohe Durch­lässig­keit glaubt. Das stimmt aber nicht. Warum gibt es das Selbstbild, wenn es keine Wirklichkeit hat? Das ärgert mich an der derzeitigen akademischen Situation. Auch in Bezug auf die Bologna-Reform. Sie wurde von allen Beteiligten nur halbherzig realisiert. Es gab bei ihnen von Anfang eine Faust in der Tasche, gegen die Reform. Diese Haltung führte aber nie dazu, dass sie sich dagegen positioniert hätten. Ich mache es nicht, hätten sie sagen müssen. Das gab es nicht. Und das wiederum führte zu einer eigentümlichen Unglaub­würdigkeit, die die führenden Akademiker immer mit sich herumschleppen.
Und außerdem, das hängt damit zusammen, sehe ich in den derzeit erfolgreichen Akademikern der Exzellenz­cluster nicht die Zukunft ihres Fachs. Man wird sich mit ihnen in hundert Jahren nicht mehr beschäftigen. Ich habe von ihnen eher den Eindruck, dass sie gewiefte Manager sind.

Ein Gebläse im Innen­raum eines Gebäudes unter­bricht unser Gespräch. Wir wechseln in einen letzten Raum. Im Hinter­grund macht eine Mädchen­gruppe Selfies und lacht.

Sie haben mehrfach »die Linken« kritisiert, besonders den inneren Wider­spruch von Praxis und Forderung. Vielleicht haben sie, die Linken, so etwas wie einen Verrat an Adorno begangen. Das, was nach ihm kam, ist von geringer Bedeutung, meinen Sie. Und doch sprechen manche von einer Hegemonie des Linken, auch in den Seminaren der Universitäten.
Da bin ich mir nicht mehr sicher. Das war, glaube ich, in den 80er-, 90er-Jahren der Fall. Im Augenblick habe ich den Eindruck, dass sich die Studierenden entpolitisieren. Eine wie auch immer geartete revolutionäre Einstellung zu Zeit­fragen sehe ich nicht. Ich glaube, sie wurden tief desillusioniert. Die Disziplinierungs­mechanismen des Neo­liberalismus haben gewirkt. Oder aber: Man könnte sagen, die jüngeren Leute haben dazugelernt. Sie tragen nicht mehr einfach revolutionären Elan vor, den sie mit 25 sowieso begraben müssen. Sie agieren klüger, aber unpolitischer. Diese Bologna-Generation von Studierenden weiß genau, wie sie formal das Studium bewältigen kann. Aber die Freiheit des Studierenden, mehrere Semester im Unklaren darüber zu sein, was man eigentlich tut, ist kaum noch zu finden. Die durch die Reform forcierte Organisation des Studiums hat zu einer neuartigen Virtuosität des Studierens geführt.

Die Kritik, dass Studierende auf formaler Ebene genau wissen, wie sie ihr Studium bewältigen, hat den Nach­geschmack, dass sie das auf inhaltlicher Ebene nicht länger wüssten. Wir hatten beim Mittagessen über Der lange Sommer der Theorie von Philipp Felsch gesprochen. In diesem Buch gibt es eine längere Passage über das hohe qualitative Niveau der Seminare zu Adornos Zeit, die in der Behauptung aufgeht, dass die Seminare seit seinem Tod nie wieder eine solche Qualität erreicht haben.
Ich muss einräumen, dass ich nicht in sogenannten exzellenten akademischen Kontexten arbeite. Ich kann also nur beschränkt darauf reagieren. Aber auf der Seite der kommenden Dozenten und Professoren hat die Qualität stark nachgelassen. Das beobachte ich. Die Professoren, bei denen ich studiert habe, hatten ein ganz anderes Wissen als ihre Nachfolger. Das klingt, als wäre früher alles besser gewesen. Aber ich muss das für die Philosophie tatsächlich sagen: Es gibt eine enorme Spezialisierung, die sich durch den Charakter der Philosophie als Wissenschaft begründet. Die Leute, die die Tiefe der Geschichte der Philosophie kennen, gehen uns verloren.
Für mich ist das aber sehr wichtig. Für mich ist es unmöglich, ohne Griechisch das Fach der Philosophie zu vertreten. Das hat nichts mit Eliteb­ewusstsein zu tun. Ich finde nur, dass die Philosophie­sprache nach wie vor vom Griechischen und Lateinischen dominiert wird. Begriffe wie Metaphysik, Kybernetik, Technologie; all diese Begriffe haben einen griechischen Hintergrund. Wenn wir uns darauf einigen, von dieser Sprache abzusehen, geht uns etwas verloren.

Sie sagen, die Dozierenden und die Studierenden haben eine zu geringe Sensibilität für die Geschichte der Philosophie. Lesen sie zu wenig?
Wir kennen die Diskussion über das Buch, das Lesen und den Einfluss sozialer Medien darauf. Das In-der-Welt-sein verändert sich, das Weltbewusstsein verändert sich durch die digitalen Medien. Das Generations­bewusstsein, auch in der Frage, steht in Frage: Was hieß es, in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die Philosophie hineinzukommen? Was heißt es heute? Die Schlüsse sind offen, die Fragen müssen wir stellen.

Peter Trawny V

Wenden wir zum Ende doch diese Frage: Was müssen wir tun, um zu anderen Formen des Denkens zurückzu­kehren oder neue Formen zu etablieren? In Ihrem Buch gibt es dazu einen interessanten Hinweis. Heidegger hat immer, auf besondere Weise, per Hand geschrieben. Das kann ja nicht der Weg sein.
Nein, natürlich nicht. Wer schreibt heutzutage mit der Hand? Wir partizipieren immer noch an den Heroen­geschichten. Welcher Philosophie-Dozent lehrt nicht vom Auftreten Sokrates’ im Symposion und ist davon begeistert? Wir berufen uns auf diese Figur. Wir leiten von solchen Gestalten unsere Legitimation ab. Das ist dem Metier immanent. Durch solche Galionsfiguren legitimieren wir das Fach. Durch sie legitimieren wir sogar die Institution über das Fach hinaus: Warum gibt es überhaupt Philosophie? Das kann man gar nicht ohne einen sokratischen Impuls beantworten. Wir kommen immer wieder auf diese Figuren zurück. Das muss man auch institutionell ernst nehmen. Wir müssen dieses Problem austragen, uns auf Leute berufen, die Grenzen überschreiten, neue Grenzen setzen, die Diskurse zerbrechen. Wir müssen die Innovations­geschichte der Philosophie ernster nehmen.
Die Philosophen der Frühen Neuzeit, die wir heute bewundern, waren allesamt keine Philosophie­professoren: Leibniz, Spinoza, Hobbes, Descartes. Sie haben nie an irgendeiner Institution gearbeitet, die man Universität nennen kann. Spinoza hat sich ausdrücklich dagegen gewehrt, irgendwo unterzukommen. Zu glauben, dass die Universität so etwas sei wie der prästabilierte Ort der Philosophie sei, ist aus den Fingern gesogen.

Produzieren wir jetzt also Aufkleber mit der Aufschrift: »Raus aus den Universitäten, rein in die Welt!«?
Nein, Aufkleber sind immer falsch. Aufkleber brauchen wir nicht. Wir müssen eine biografische Aufmerksamkeit dafür entwickeln, wie Philosophie und Leben immer schon ineinanderhängen. Das passt jetzt doch auf einen Aufkleber. Aber es könnte in einer Renaissance einer philosophischen Haltung zurückschlagen!
Philosophie kann nie ein Beruf sein. Wissenschaft als Beruf, wenn man sich auf dieses Wissenschafts­bewusstsein als Dozent zurückzieht, hat man es nicht verstanden. Man könnte meinen Gedanken als Romantisierung diskreditieren und sagen, dass das der existenzphilosophische Einschlag der 20er- und 30er-Jahre sei. Aber ich kann als Philosoph kein Rassist sein, ich kann noch nicht einmal indifferent sein, mich mit irgendeinem Hobby ablenken. Ich kann nicht Urlaub von der Philosophie machen. Ich muss mein Verhältnis zu dem Anderen und zum Weltleben auch philosophisch reflektieren und mit meinem Leben in einen Zusammen­hang bringen. Es gibt nichts, was von der Philosophie nicht berührt würde. Es gibt nichts außerhalb der Philosophie. Das ist der Anspruch der Philosophie: das Leben in seiner Ganzheit begreifen.

Wir sprachen mit Peter Trawny am 20. Oktober 2018 auf dem Teufels­berg bei Berlin.

Produktion: Konstantin Schönfelder, Simon Böhm
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann

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#3 Peter Trawny
Kapitel I–III
I Aufstieg
II Plateau
III Abstieg

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