Es ist bereits später Mittag als ich aus dem Zug steige und Ann Cotten mir auf dem Bahnsteig entgegenläuft. Später, als ich mich an diesen Moment erinnere, schien mir der Himmel klar, die Sonne hoch über uns. Doch die Fotos auf meinem Handy zeigen einen lückenlosen Wolkenteppich. Es ist ein Tag im April, der sich noch nicht entschieden hat, ob er noch am Frühling festhalten oder schon auf den Sommer hinweisen möchte. Das Gras der Wiesen steht hoch, Löwenzahn sprießt weit und breit. Ein Jahr ist seit diesem Gespräch vergangen.
Bis zum Aargauer Literaturhaus sind es nur wenige Gehminuten. Hier residiert die Dichterin für einige Monate in einem Gästehaus, das leicht oberhalb in einem von alten Mauern umgebenen Garten liegt, und mit seinen wenigen Zimmern und tiefen Decken eher an einen umgebauten Bungalow erinnert. Ich öffne meinen Koffer und prüfe die Technik. Ann Cotten fragt, ob ich noch ein wenig Spazieren möchte und so steigen wir auf zum nahegelegenen Schloss Lenzburg, das heute nicht mehr als ein Museum ist.
Wir umlaufen die Burganlage bis zur Ostseite. Hier erstreckt sich die Himmelsleiter, deren schmale sandsteinernen Stufen auf einen benachbarten Hügel führen, von dem aus sich das Land weithin überblicken lässt. Wir sehen kreidefarbene Wohnblöcke, gestreifte Felder und immer noch dieselbe blasse Wolkendecke. Wir setzen uns auf eine Bank. Das Licht ändert langsam seine Farbe. Der Abend naht. Als wir unser Gespräch beginnen, mäht hinter dem Dickicht der Bäume jemand seinen Rasen.
Der Mutter die Brille abnehmen?
Mich interessieren Sachen. Das ist die intellektuelle Libido, wenn man das so sagen kann. Die rast auf Sachen zu. Meine Mutter sagte: Erst mal nachdenken – find ich schwierig. Ich will sofort rein. Die Challenge besteht für mich darin, in irgendwas langsamer reinzugehen oder zuerst etwas zu überlegen. Oft einer Witterung, einem arbeitstechnischen Instinkt folgend: Wie es gut gehen könnte, oder ich einen Weg sehe, den es mich reizt zu gehen. Oft ist es aber bloß auch der experimentelle Kitzel, loszugehen und zu sehen, was dann passiert.
Ist das die Herrschaft der Intuition über die Rationalität?
Das ist keine Entweder-oder-Entscheidung, je nach Definition ist Ratio eine Art formalisierte Intuition, oder Intuition stellt sich als eine Kombination mehrerer möglicher Rationalitäten heraus. Das geht an philosophische Grundfragen: was ist Denken, wie funktioniert Wahrnehmung usw. William James, Nishida Kitarô haben gute Definitionen von Intuition. Aus der vulgäraristotelischen Denktradition kommt diese Art, in Schubladen zu denken, mit Nomen beschriftet. Sinnvoller scheint es mir, von der Erkennung von Themen oder Mustern zu erzählen. Wie wenn man eine Bananenschale entsorgen möchte und dann auf Mülleimer spitz ist, hebt das jeweilige Interesse bestimmte Wahrnehmungen hervor, sowohl Intuition als auch Ratio sind Arten, selektiv die Umgebung in Strukturen wahrzunehmen, die für bestimmte Weiterverwendungen geeignet sind.
Das aber scheint mir bereits eine Beschreibung vom Ende her zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dem Kind, das du einmal warst, solch eine Innenansicht bereits möglich war.
Sicher ist die Immersion in eine neue Sprache und Umgebung eine Schule der Hirnagilität und der Mustererkennung. Das kann auch einen Overkill produzieren. In der Schule hatte ich Disziplinprobleme. Wenn ich im Sachunterricht Multiple Choice-Fragen ausfüllen sollte, hat die schiefe Logik der Sprache oft die Aufmerksamkeit für den Lehrinhalt komplett überschattet, ich war aber auch so drauf, dass ich mich gern blöd stellte, um die Unlogik der Anforderungen bloßzustellen – wie ich glaubte.
Kannst du deinen Protest gegen diese Lehrformen genauer beschreiben?
Ich versuchte, meine Rebellionen so anzulegen, dass sie im Endeffekt auf mich zurückfallen und nicht andere behelligen. Aber ich war auch eitel und stellte immer sicher, dass man merkt, dass ich es eigentlich verstehe und aus Langeweile Unsinn mache. Also ich muss extrem genervt haben (lacht). Könnte auch noch im Interview noch nerven. Ich will das auch wirklich nur als Problem schildern. Mein Verhalten war kindisch, ich fand vieles kleinkariert. Es war keine Opposition gegen das Rationale, sondern gegen die Multiple Choice-ifizierung von allem: gegen oberflächliches Abfragen von recht gedankenlos aufbereitetem Wissen, als würde man uns Grundschülernnnie für blöd halten.
Das heißt, Rationalität und Intuition schließen einander nicht aus, sondern fallen ineins, sind unterschiedliche Spielformen derselben Sensibilität.
Auch Mathematikernnnie benutzen Intuition. Intuition ist ein Sammelbegriff, eine synthetische Zusammenfassung: entschiedene Neigungen, gespeist von allem gesellschaftlich und historisch geformten Wissen, das man hat. Intuition ist kein Gegenstück zur Rationalität, sondern eine Arbeitsweise, mit der Bio-Menschen mit ihrer Art der Vernetztheit im Gehirn mit Rationalität und Logiken umgehen, die auch im Medium der Schrift gedeihen. Etwa ein hochgepegeltes Mustererkennen. Daran könnte es liegen, dass zu kurz gedachte oder schlecht abgekürzte, irreführend reduzierte Strukturen so ärgerlich sind. Du kennst das Gefühl bestimmt so: »Ich weiß, was du meinst, aber wenn ich ein Computer wäre, würde deine Ausdrucksweise einen Glitch produzieren.« Wenn man solche Ausdrücke und die Leute, die sie wörtlich nehmen und nicht ganz verstehen, eine Weile beobachtet, fehlt einerm jegliches Vertrauen in die auf so falschen Grundlagen beruhenden Entscheidungen. Eigentlich beschäftigt mich jetzt etwas Ähnliches, wenn ich in Bereichen mit ganz unterschiedlichen Terminologien lese und merke, die reden eigentlich über das Gleiche und haben je nach Fachgebiet ein anderes Interesse daran und daher natürlich auch eine anders strukturierte Terminologie und Satzbauweise und solche Dinge.
Mein lyrisches Bedürfnis, wenn man so sagen kann, besteht im Interesse an der Zusammenführung oder Engführung der verschiedenen Jargons. Karatani Kôjin nennt es Parallax, dass es immer mehrere Sprachen gibt oder mehrere Arten gibt, etwas zu sagen oder zu denken, die sich nicht unbedingt widersprechen und auch nicht Gegensätze darstellen, sondern sich nur ein bisschen reiben. Die Reibung ist wie eine Stereobrille, ermöglicht ein griffiges 3D-Denken, also idealerweise eine Begrifflichkeit, die besser auf die ja auch mehrschichtige Realität umzugehen.
Welche Konsequenzen hast du aus der klassischen schulischen Bildung gezogen?
Klassisch? Mein Feind ist nicht die Klassik, sondern die Verdoofung. Möglicherweise gibt es kontinuierliche Traditionen einer gewissen pädagogisch gemeinten Stumpfsinnigkeit, aber das Problem ist nicht, dass es alt ist.
Teils lag es vielleicht an der Ästhetik der Aufbereitung, dass mir die Künste lieber waren, alle Fächer mit Lesebüchern, in denen man selbst blättern konnte und die Stimme der Lehrkraft ausblenden. Zeichnen, Malen und Musik waren insofern unkompliziert. Ich hatte da keine Schwierigkeiten damit, weil da in der Sache eine große Subtilität da ist, die von keinem halbgaren Metatext übertüncht werden kann. Als ich im Physikunterricht wiederum merkte, dass die Formel irgendwie genau umgekehrt gebaut war, als meine Intuition das konstruiert hätte, war ich fasziniert davon, dass Formeln zu verschiedenen Zwecken umgebaut werden können. Doch leider war ich nicht gut darin, mich darauf zu konzentrieren, Dinge, die mir unwesentlich vorkamen, sauber und ordentlich zu machen.
Hast du dich manchmal als unpassend empfunden?
Vermutlich schwenkt man als Kind nicht solche Urteile herum. Ich habe gemerkt, dass einiges nicht zusammenpasst, und mich innerlich geweigert, das als meine Schuld anzunehmen. Sicherlich gestützt von einer freundlichen Familie. Vielleicht ein kultureller Unterschied, die Ami-Naivität bzw. Besserwisserei der 70er, im Gegensatz zum Anpassungsrealismus einer indigenen österreichischen Haltung: Es ist die Schule, du musst mit den Lehrernnnie zurechtkommen.
Und deine Eltern, haben Sie deinen Übermut gemäßigt?
Haben sie nicht, nicht erfolgreich. Die mütterlichen Ermahnungen »nicht zu fest, nicht zu weit, nicht zu viel« sind ja nicht überzeugend und leicht zu overriden.
Es spricht viel dafür, Kinder zu Respekt anzuhalten. Im Grunde hat meine Mutter ja auch so gesagt, dass man die Arbeit von Lehrernnni respektieren muss, auch wenn man nicht immer derselben Meinung ist. Was sie nicht gesagt hat, was man auch sagen könnte, ist, dass diese gesellschaftlichen Rollen, auch in einer gewissen Hierarchie – aber eben nicht die geldbasierte – ihren Sinn haben. Man sollte ältere Leute und Lehrernnnie einfach grundsätzlich mit einem gewissen Respektlevel behandeln. Denn das kitzelt auch aus ihnen das hervor, dass sie versuchen, des vorgestreckten Respekts würdig zu erweisen. So konfuzianistisch denke ich heute. Früher war ich eher noch unter dem Einfluss der 68er-mäßigen Erziehung, dass alle gleich viel wert sind, alle Meinungen flat.
Eine der schönsten Beschreibungen einer Sehnsucht, die sich nicht erfüllt, weil sie sich vielleicht auch nicht erfüllen darf, stammt von Thomas Brasch, der schreibt: Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber / die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber / die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber / wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Erkennst du dich in diesen Sätzen?
Toller Text – stilistisch in der klaren formal experimentellen aber funktionalen Tradition des Prenzlauer Berger Ostpunks.
Ich hatte immer Sehnsucht nach etwas, was mich interessieren würde. Dass ich in einer albernen Welt in einem albernen Geschlecht in einer langweiligen Situation lebte und selten Anschluss an meine Umgebung fühlte, führte dazu, dass ich völlig unrealistischen Phantasien nachhing. Pirat-Sein zum Beispiel, oder ich war auch Zorro – wo man das N meines Namens bloß auf die Seite drehen musste. Fuchtelte schon sehr viel mit Papierschwertern rum. Wenn es in unserem Haus Computerspiele gegeben hätte und ich sie entdeckt hätte, wäre ich vielleicht da reingekippt, so wurde ich eine Leseratte. Doch da war ein großer Graben zwischen den eskapistisch genutzten Fantasiewelten und der vergleichsweise langweiligen Realität, ohne Gefährdung oder auch nur Berührung psychischer oder existenzieller Art.
Wann hast du begonnen zu schreiben?
Das Schreiben habe ich schon in der Schule ziemlich exzessiv praktiziert. So wie das Lesen war auch das Schreiben ein Weg hinaus aus einer langweiligen Realität. Die Englischlehrerin hat mir freundlicherweise erlaubt, im Unterricht an einer Fortsetzungsgeschichte zu schreiben bzw. Bücher zu lesen und über sie Bericht zu erstatten. Es hätte genau anders kommen können, meine Schwester wurde etwa einfach eingesetzt, um den schwächeren Mitschülernnnie zu helfen, und hat folglich die Schule gehasst.
Ich würde gerne noch einmal über deine Vorstellung von Intuition sprechen. Die Rational Choice Theory beschreibt, dass wir den Nutzen der meisten Entscheidungen in unserem Leben nicht einzeln berechnen, sondern stattdessen auf Heuristiken und Cues zurückgreifen. Shortcuts, die uns erlauben, nicht alle 150 Gerichte einer Speisekarte studieren zu müssen, weil wir uns zum Beispiel einfach an den Bestellungen der Nachbartische orientieren und somit dann Rationalität herstellen. Kommt das deinem Begriff von Intuition näher?
Nein.
Die Rational Choice Theory beschreibt eine ganze Reihe von vereinfachenden Modellierungsversuchen von ökonomischem Verhalten von Menschen, die sich in der Nachfolge von Adam Smith entwickelten, und die mehr oder weniger unrealistisch sind. Sie sind Versuche, die Leistung von Intuition mittels Logik nachzubauen, wie es auch die verschiedenen ANN (Artificial Neural Networks) der Geschichte gewesen sind. Daran, dass binäre, in der vulgäraristotelischen Tradition mit Deduktion und dem Prinzip der ausgeschlossenen Mitte verhärtete Argumentationsarchitekturen es nicht schaffen, auch sehr alltägliche Leistungen von Bio-Menschen zu simulieren, sieht man, dass etwas an der Logik, die wir im Leben benutzen, elastisch ist, die binäre Logik mit generalisierten Aussagesätzen nicht zulänglich für wichtige Anforderungen.
Es gibt zum Glück andere Logiken, die etwa in der chinesischen, indischen, arabischen, vermutlich auch südamerikanischen, afrikanischen und australischen Philosophiegeschichten ausgearbeitet wurden. Zur chinesischen habe ich einen Aufsatz von Mary Tiles und Yuan Jinmei übersetzt, »Can the Aristotelian square of opposites be translated into Chinese« - Laut Yuan und Tiles benennt die chinesische Logik verschiedene Beziehungen eines Terms, die einander nicht ausschließen. Man sollte das vielzitierte »Chinesische Lexikon« von Borges ernst nehmen, da hat er wohl was Richtiges aufgeschnappt.
Die Abkürzung, die du beschreibst, abzuschauen, statt selbst die Information zu verarbeiten, ist gerade nicht, was Intuition als synthetische Informationsverarbeitung macht. Intuition wäre zum Beispiel aus Erfahrung zu wissen, welche Speisen in einem Gasthaus aufgrund einer bestimmten Atmosphäre und anderen Hinweisen die sein könnten, die gelingen – da werden viele kleine Hinweise zu einer Vermutung zusammengeführt, aufgrund von Erfahrungen, die aber nicht unbedingt verallgemeinerbar sind, und für die eine logische, deduktiv Schlussfolgernde Ausdrucksweise nicht passend wäre, man müsste in jedem Satz »möglicherweise«, »wahrscheinlich«, »mutmaßlich« usw. abschwächen. Dass wir das tatsächlich andauernd machen, zeigt, wie der Aristotelismus, oder die Pseudogelehrtenposerei, Schulmeisterei, unsere Sprache auf eine bestimmte Art geformt hat, die nicht gut auf die Wirklichkeit passt, aber sehr nützlich ist für sophistische Zwecke, zum kollektiven selektiv Wahrnehmen.
Dann ein anderes Beispiel: Schach wurde historisch als ein besonders kreatives Spiel beschrieben. Dabei basiert es vor allem auf Mustern. Wer die meisten Positionen und die daraus hervorgehenden besten Züge memorisiert hat, siegt. Unter Zeitnot ist principled chess jedoch unmöglich. Und dann sagt man, dass sich dieser oder jene Bauernzug richtig anfühle, ohne dass sich dafür ad hoc ein theoretischer Hintergrund benennen ließe.
Das ist ein klarer Fall von Intuition.
Ich muss gestehen, dass mich Schach und generell Spiele nie sehr interessiert haben. Erfolg-Haben hat mich nicht motiviert, sowohl Gewinnen als auch Verlieren finde ich unangenehm, also richtig störend bei der Musterbeobachtung. Diese Zugkräfte sind aber notwendig, damit es beim Spiel etwas zu sehen gibt. Interessanter ist oft, das Schachbrett umzuwerfen. Ich verstehe alle Freaks, die betonen, was kackt ihr mit kleinlichem Scheiss rum, wo doch alles im Arsch ist, und wo doch alles völlig anders sein könnte. In einem System sehr gut zu funktionieren, finde ich geradezu peinlich.
Ein anderes Spiel, das mir einfiel, als du gerade erzähltest, du hättest manchmal das Bedürfnis das Spielbrett umzuwerfen, ist Tetris. Lange hatte man geglaubt, dass dieses Spiel mit dem Erreichen des Level 29 endet. Nicht, weil die Spielerin ab dann nicht mehr in der Lage wäre, die herabfallenden Blöcke richtig in das sich ständig verändernde Muster einzupassen, sondern weil der Controller der Spielekonsole das herkömmliche Drücken nicht mehr schnell genug in Signale übersetzen kann. Dieses, ich nenne es jetzt einfach mal, Übersetzungsproblem des analogen Inputs wurde erst 2018 durch das »hypertapping« und zwei Jahre später durch das »hyperrolling« gelöst. Letzteres besteht darin, einen Finger auf dem Steuerkreuz zu belassen und dieses von der Unterseite des Controllers nach oben zu drücken, wodurch die Hardware mehr Signale registrieren konnte, als es beim klassischen Spielen möglich wäre.
Heute besteht die Herausforderung darin, nicht nur weit über das Level 29 hinaus zu spielen, sondern so weit, bis die Speicherkapazität dieses Spiels, das Anfang der 80er Jahren programmiert wurde, erschöpft ist und es wieder bei Level 0 beginnt. Letztlich wurde mathematisch berechnet, wie ein Block fallen muss, damit das Spiel an einem bestimmten Punkt durch einen Mangel an Speicher abbricht – oder eben nicht. Tetris scheint mir daher eine Metapher nicht nur für das Hinauszögern des Endes und den Neustart, der letztlich unvermeidlich ist, sondern auch für ein Spielen jenseits des klassischen Spielfelds. Kann es sein, dass es dir darum geht?
Respekt habe ich fürs Umdenken, ja. Oft mit Distanz verbunden, Brechts V-Effekt. Man muss weiter aus dem Fokusfeld rausfahren, um die Dinge im Kontext zu sehen. Dazu muss man oft Tüftelgeduld aufbringen und nicht gleich aufgeben. Als ungeduldiger, frustrationsintoleranter Mensch ist Geduld nicht das, was mir leichtfällt und gerade deswegen habe ich Respekt dafür. Selbst benutze ich oft Umwege, während denen sich etwas im Unterbewussten klärt, wie im Schlaf; gehe um drei Ecken und kann danach die Dinge anders sehen.
Mir scheint, dass Du in diesem Umgang mit den Dingen bereits auf einen bestimmten Umgang mit der Sprache hinweist …
Angesichts meiner charakterlichen Schwächen empfinde ich Dankbarkeit, dass die obsessive Arbeit mit Sprache für mich möglich war. Die Sprache als extrem komplexes und einigermaßen unregelmäßiges System ist interessant, weil die Welt auch so ist, also sowohl sehr regelmäßig als auch sehr unregelmäßig.
Siehst du dich dabei auf der Seite der Fragen oder auf der Seite der Antworten?
Ja. (lacht)
Es gibt ja sehr unterschiedliche Arten von Fragen. Warum-Fragen nachzugehen, führt in verschiedene Richtungen. Warum sind die Leute so, wie sie sind? Das würde in die Psychologie gehen. Warum schauen die Pflanzen unterschiedlich aus? Das hat dann irgendwas mit der Zellstruktur zu tun. Und so weiter. Bei Fragen unterscheidet sich sehr: Wie würde denn eine Antwort ausschauen? Du könntest etwa bei der zweiten Frage antworten: Die Zellen sind anders geformt. Ja, und warum sind die Zellen anders geformt? Dieser endlose Regress von warum. Die Antwort besteht dann wohl aus dem ganzen Weg, bis man müde wird. Das ist quasi naturwissenschaftlich in dem Sinn, dass man einfach Daten oder immer genaueres Wissen akkumuliert, das vernetzt ist, und Querverbindungen findet, die man gerade brauchen kann. Abkürzungen sind pragmatische Freundlichkeiten.
Du hast mir lange vor diesem Gespräch eine Reihe von Texten geschickt, die sich darin ähneln, dass sich die Methodologie des einen von der Methodologie des anderen beinahe größtmöglich unterscheidet. Eine Beschreibung deiner Arbeit als »lyrisch« scheint mir daher ungenau.
Ja, definitiv. Es geht auch um Übersetzung zwischen Jargons, das Scheinverständnisse, die eigentlich nur Einordnungen sind, Stillmachen von Unbehagen und Fragen in einer strukturell violenten Welt. Ich kann ja die naturwissenschaftliche Sprache nicht gut performen, da mein Studium geisteswissenschaftlich war, aber auch das kann ich nicht gut performen, zu albern. Also dazu muss ich meine eigenen Sätze sehr lange verbessern, bis sie die peinlichen Überanschaulichkeiten abwerfen. Irgendein Mikro-Kobold gibt mir immer wieder das unpassendste Wort ein, um genau die Verbindung zu zeigen, dass auch die, die das sagen, nicht ganz Unrecht haben.
Lyrikdiskurs interessiert mich leider überhaupt nicht, und da ist die offene Frage: Ja, okay, aber was interessiert dich denn an Lyrik? Warum machst du das überhaupt? Ich bin da auch nur irgendwie reingeraten, aber das Produktive am Feld Lyrik ist, dass die Texte kurz sind und man sich dadurch leisten kann, wenig zu regeln. Und da die Sprache ein geiles, großes System ist, das sich laufend verändert, kann man immer neue Tricks entwickeln. Ähnlich wie Skateboarden vermutlich.
Texte sind zudem multifunktional, so wie Menschen multifunktional sind, und dadurch können sie hilfreich sein, finde ich, bei der Artikulierung intersubjektiver Solidarität in der nötigen Spezifikation. Ich habe ein lieb gemeintes Interesse daran, hilfreiche Gegenstände herzustellen für mich und andere, als Gedichte oder Texte oder Phrasen, und die Bilder, Kommunikation zu verschärfen, eben weil ich denke, dass ich sicher nicht die Einzige bin, die immer wieder unzufrieden ist mit einer groben, phrasenhaften Art zu sprechen, wie sie uns üblicherweise abverlangt wird. Auch, weil lokal sehr präzise erzogene Sprachen wie Dialekte durch die Medien verwaschen werden, muss und musste sich kollektiv eine Art Himmelspolizey der Sprache entwickeln, eine Academie Francaise aus dem poetischen Untergrund, das immer wieder Hinweise streut, meistens aber nur beobachtet und kommentiert, wenig gehört, aber doch zumindest dass irgendwer im Kosmos registriert, dass es nicht egal ist. Das war nämlich, was ich in den Bibliotheken fand, was mich zum Leben in dieser Gesellschaft doch, gegen viele Einwände, motivierte.
Fällt es dir schwer, dich auf eine Sprache einzulassen?
Was heißt das?
Es gibt Theoriesprachen, Fachsprachen, die Sprache der Literatur, die Alltagssprache und Fremdsprachen …
Einzulassen im Sinn von lesen, wahrnehmen, finde ich eigentlich immer interessant und bin meistens motiviert dazu. Es interessiert mich, neue Töne zu hören, aber sie zu performen ist nicht immer so einfach oder zulässig. Man denke nur an Pidgin oder Rap.
Du meinst, sie anzunehmen als etwas, das auch zu dir gehört?
Ich weiß nicht, das ist keine für mich wichtige Kategorie, genauso wenig wie Heimat oder so etwas. Ich stelle mir die Frage nicht, höchstens in dem oben erwähnten negativen Sinn, dass man sich fragen muss, ob ich etwas appropriieren darf und so weiter. Das ist für mich auch ein bisschen neu, weil ich hatte als Frau, die sowieso nicht in der weißen Kulturgeschichte inkludiert war bis vor kurzem, immer wie von unten gedacht: Ich nehme mir, was ich brauche, für meine Zwecke, ohne mir Sorgen zu machen, ob ich das darf oder nicht. Da aber die Sensibilität zu Fragen von Klasse und Rasse und Appropriation von oben allgemein gewachsen ist, während ich selbst in gewissen Nischen bekannter geworden bin, muss ich aufpassen, da ich ja doch von einer Bühne und mit Verstärkung spreche, deren Kabel mit allen Arten von Ausbeutung und Gewalt verbunden sind. Ja, im physischen Sinn, wer hat die Kabel produziert, und wessen Stimme transportieren sie? Da ist alles ganz ganz scheiße schief.
Hingegen habe ich wenig Scheu nach oben, quasi etablierte, anerkannte Sprachen, wie Wissenschaftssprache oder so, spielerisch durcheinanderzubringen. Weil das im Zweifelsfall auf mich zurückfällt, wenn ich die nicht gut performen kann, sehe ich das als selbstregulierend. Dadurch sind meine Texte oft geschmacklos und inhomogen, was den Stil betrifft. Als ich jünger war, wurde das als »wild«, »bissig« und was an rassigen Vokabeln noch an junge Frauen angewandt werden, apostrophiert. Wer mit 42 noch meint, »wild« sein zu dürfen oder zu sollen, muss vielleicht einiges überdenken. Zumindest sehr gut überlegen, wann und wo man wild ist. Man ist da auch wirklich in der Zwickmühle, das Problem ist, dass die jüngeren zu Recht sehen: He, wenn du so dagegen bist, das wäre deine Aufgabe gewesen, es zu ändern. Wild zu sein unterstreicht also die eigene Ohnmacht. Zu resignieren und so zu tun, als hätte man doch nichts gegen Wohnzimmereinrichtungen, ist aber auch keine schöne Option. Ich weiß darauf eigentlich keine Antwort, stürze mich in den Workaholismus.
Ich frage auch, weil ich gerne verstehen würde, wie du Sprache anfasst, wie du sie benutzt. Natürlich mache auch ich mir ein Bild von deinem Sprachgebrauch, aber ich verstünde gern besser, wie sich Sprache dir darstellt. Ist sie das, was du dir nimmst oder wird sie erst von dir gemacht …
Nee, nee, ich habe noch nie im Leben irgendetwas gemacht. Das ist alles schon da.
Du misstraust den gemachten Dingen, nicht?
Es gibt keine gemachten Dinge, will ich sagen. Von wem denn? Es sind Rekombinationen. Ich habe eine grundsätzlich materialistische Ansicht der Welt. Die Chemie ist in der einen oder anderen Form schon da. Auch die Strukturen, Muster und Ordnungen sind da. Sie werden wiederholt, recycelt, aufgegriffen, mit Fehlern variiert, benutzt von Menschen und von Sprachen usw. Die Laute analog. Wenn ein Kind sprechen lernt, dann werden Artikulationsformen geübt, die dann Muster bilden. Und die werden von Sprechenden rundherum gelernt. Ich sehe nicht, wo da irgendetwas gemacht werden würde. Außer man definiert das Machen als kombinatorische Arbeit und Auswahl. Es sind unglaublich viele Auswahlen, die die ganze Zeit passieren, damit einem dies oder jenes einfällt. Gerichtete Aufmerksamkeiten auf das, was man für seine Zwecke braucht. Was die Zwecke sind, ist indessen unklar. Was will man überhaupt?
Solche Fragen interessieren mich schon. Erkennbar sind Pakete, die vielleicht auch ein bisschen Blackboxes sind. Yanabu Akira spricht vom Kassetteneffekt, dass das Äußere – eines Wortes z.B. – anziehend glitzert und man annimmt, drinnen müsse auch etwas ganz Tolles sein. So etwas wie Schönheit. Vermutlich stimmt das überhaupt nicht, aber die Mutmaßung einer Entsprechung, das kratylische Phantasma, könnte man sagen, nach dem Dialog Kratylos in dem eine »Ähnlichkeit« zwischen Sprache und Welt erwogen und verworfen wird, ist in der Geschichte der Ästhetik sehr produktiv. Ich habe definitiv etwas, was ich Schönheit nennen würde, immer stark empfunden und sehr geliebt. Ich habe immer versucht und entdeckt, dass man mit Sprache schöne Dinge herstellt. Dabei ist die Definition von dem, was ich als schön bewerte, immer recht deutlich von klischeehaften etablierten gemeinsamen Nennern entfernt. Es hat mich schockiert und verwirrt, als ich mich zum ersten Mal in einen Menschen verliebt habe, dien man klassisch schön nennen würde. Ich war verunsichert, wie soll ich jetzt meine tatsächlichen Empfindungen von dem unterscheiden, was man generisch in so einem Fall wohl erwarten würde?
Im Handwerk des Herstellens finde ich mehr Interessantes zu beobachten als im Phantasma des Schöpfens. Die Verfahren zeigen sich in subtilen Qualitäten, wo viel Energie auf ein Feld eingeht. Oder im Akustischen, Komponieren, eine musikalische Phrase in einer Kombination, die ich noch nicht gehört habe, die aber in der Lage ist, einen sehr definierten Sinn zu erzeugen. Wenn das dann auf Wörter passt. Etwa im Songwriting, oder beim Reim und der metrische Arbeit in verschiedenen Arten von Gedichten. Da arbeitet man mit Resonanzen wie mit Klangkörpern.
Dass irgendein Thema mit einem Wort in das Gedicht reingezogen wird, dass das geht, finde ich beeindruckend, deswegen mag ich die Technik des Schreibens. Du kannst zitieren, das ist schwach, aber mit den richtig platzierten strukturellen Analogien explodiert die Kraft einer Phrase geradezu. Es ist hedonisch erfreulich, solche Erlebnisse zu haben. Beim Lesen und dann auch beim Schreiben selbst.
Mimesis ist also ein klassisches, massives Paket solcher Dinge. Dass man etwas so beschreiben kann, dass ein Bild entsteht, das man wiedererkennen kann: diese Arbeit erschien mir technisch lohnenswert, da auch sehr effizient. Da wären wir wieder bei der Abkürzung.
Aber ist unser Umgang mit Sprache durch unser menschliches Zusammenleben nicht immer schon sozial codiert? Da muss es uns doch unbedingt interessieren, wie die Dinge, von denen du sagst, sie seien längst da, zu einem Material werden, das sich benutzen lässt?
Sprache als soziale Matrix ist ein Prozess, der sich ständig verändert. Alles kommt irgendwo her und wird dann auch weitergehen. Kein Mensch hat das unter Kontrolle. Die Tätigkeit des Machens oder Herstellens einer Formulierung, sagen wir, ist eine Reaktion auf eine Situation oder auf Bedürfnisse, und eine Art, damit umzugehen, etwa um ein Problem zu lösen oder um etwas mitzuteilen. Also im klassischen Sinn von Informationsabgleich oder Austausch – are we on the same page? Oder aber um eine eigene Lesart durchzusetzen, also so zu artikulieren, dass sie sich als verbunden und satisfaktionsfähig zeigt, durch Sprache kommuniziert und anerkannt werden kann. Nehmen wir als Beispiel die Debatte ums Gendern. Da geht es nicht darum, etwas herzustellen, was eine Utopie wäre oder so, sondern Lebenswirklichkeiten sichtbarer zu machen in verschiedenen Berufen, die bis Ende des 20. Jahrhunderts in der männlichen Form geschrieben wurden, sodass man sich bei jedem Vorkommen dieses Wortes etwas unpassend fühlte. Falls man weiblich war, wurde man bei jeder Nennung des eigenen Berufs gezwungen, sich als unpassend zu empfinden. Jetzt soll das mal umgedreht werden, und die bislang Begünstigten sollen sich unwohl fühlen, ja, sollen sie.
Du benutzt nicht nur in deinen Texten, sondern auch jetzt, wo wir hier sprechen, das von dir erfundene polnische Gendering nach der Regel: »Alle für alle Geschlechter benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.« Du begründest diese Regel damit, dass es nicht um eine »Korrektur« gehe, sondern um das »Aufzeigen von Missständen« und schließt diese Präambel, die jedem deiner Bücher vorausgeht, mit dem Satz: »Gelöst werden müssen die Probleme außerhalb der Sprache«. Das heißt, obschon du Sprache für ein hilfreiches Mittel hältst, ist sie selbst kein Antidot und hat letztlich eine sehr begrenzte Reichweite. Und bestimmte Merkmale unserer Welt lassen sich mit ihr überhaupt nicht erreichen oder sind durch sie schlicht nicht manipulierbar, nicht veränderbar.
Statistik ist zähflüssig. Leute reagieren, wie man sieht, sehr unterschiedlich auf dieselbe Maßnahme. Statistisch kann Indifferenz mit diametralen Werten oder einer hohen Streuung verwechselbar aussehen. Die Reaktionen sind nur zum Teil fixe Werte, zum Teil Prozesse. Die einen verhärten sich auf konsequente Ablehnung, Verhärtung hilft allen, die schon da sind, wo sie hinwollen. Im Gegenzug wissen Feministennnie, dass kein Weg an Dogma und Propaganda vorbeiführt, die mit aller Konsequenz betrieben werden muss, das stimmt, die Holzhammermethode der Beeinflussung hat sich historisch bewährt. Dann gibt es die, die sich als nett und einsichtig sehen wollen und daher beeinflussbar sind. Und je nachdem, wie viele Leute so oder so reagieren und wie dann Artikel in Zeitungen die eine oder andere Formulierung verstärken und wie in Millionen Familien auf dem Küchentisch darüber geredet wird, wer sich dann durchsetzt, wer sich oberflächlich durchsetzt, wer sich dann in den Herzen sozusagen durchsetzt, wie sehr Leute unter peer pressure dann auch ihre eigentliche Meinung verändern, das ist halt eine komplexe Statistik. So schaut dieser Punkt aus, wo die Antwort auf die Frage stattfindet oder eben niemals endgültig beantwortet wird, wie sehr die Sprache die Welt beeinflussen kann oder nicht. Was du vorhin »Rational Choice Theory« genannt hast, ist so eine für Statistiken aufbereitete Modellierung, nicht.
Prinzipiell finde ich sowas wie die Existenz von Gedichten eine gute Sache, weil es trainiert, sich mit sehr überraschenden und auch auf den ersten Blick unzugänglichen Assoziations- oder Denkweisen von anderen Leuten, Sprachbenutzungsweisen auseinanderzusetzen. Das erweitert das Feld des Denkbaren und Möglichen, lockert die Lage auf, um eine Metapher aus dem Gartenbau zu gebrauchen. Und gleichzeitig finde ich konventionelle Ausdrucksweisen auch sehr wichtig, weil nur durch die kann man zwingend sprechen. Lyrik ist ja vielfach auf Wohlwollen angewiesen, du kannst zu vielen Einsichten niemanden zwingen. Zu manchen schon, emotional, aber das hat Grenzen. Bei Songtexten wird es mächtiger, wo dann so harte Harmonien dazu geknallt werden, dass sich niemand den Sentimentalitäten gegenüber erwehren kann, die Kräfte der Musik sind ja seit der Antike bekannt. Aber normalerweise ist es allein schon organisatorisch schwierig, mit sehr experimenteller oder komplexer Sprache Leuten etwas zu sagen, was sie nicht hören wollen. Sie erzählen es nicht weiter, imitieren es nicht, imitieren es falsch, lesen immer nur das rein, was sie hören wollen. Aber es gibt Tricks - wie Knoten. Die brauchen ein hohes Level an Können und Komplexität zum Teil und sind sehr nützlich.
Lyrik ist auch eine Form, die in Kontrast zu Debatten steht. Die nerven ja. Aber sie sind auch nicht zu verwerfen, schließlich sind sie etabliert und bieten eine Art zivilisatorisches Interfacet, wo Leute in Würde zugeben können, dass sie nicht richtig liegen oder sich geirrt haben. Es ist wohl zugegebenermaßen eine Leistung von dieser elenden Debattierkultur der Philosophie, dieser sokratischen Akademie oder der Geschäftspraktik der Sophisten, die das gamifiziert haben und dadurch ermöglicht, dass Leute, die vielleicht wegen ihres Status nicht zugeben würden, dass sie sich geirrt haben, das doch tun. Aber da sind Leute auch unverlässlich. Man weiß eigentlich nicht, was für ein Spiel man gerade spielt in den Gesprächen.
Du sagst, Texte können eine Einladung sein. Denn mit ihnen können wir einen offenen Umgang mit der Welt trainieren. Kann ein Gedicht demnach ein Trainingsplan sein?
Ja, kann man wohl so metaphorisieren, wenn ich mich dem Anspruch stelle, ich muss mir immer wieder die Texte von Kollegenni reinziehen und schauen, was passiert, und diese Offenheit trainieren. Training heißt einfach langfristige Praxis, oder? Aber unpassend ist, dass man beim Sport immer etwas tut und darauf zugespitzt ist und nicht so offen sein kann. Hingegen trainiert man das eine, passiert bei der Lyrik garantiert was anderes, also vielleicht mehr Kampfkunst als Jogging oder das Runde ins Eckige. Es passieren auch sehr viele verschiedene Dinge gleichzeitig in Lyrik. Eins davon ist, dass Wörter aus sehr verschiedenen Bereichen zusammenkommen und in dem Gedicht eine Art Szene oder ein virtueller Raum oder Szenerie gesetzt ist, die nicht klar verortet ist und sich somit mit jedem Wort verändert. Ebenfalls nicht klar ist das Ziel von Lyrik. Soziale Einordnung unterscheidet sich sehr. Wenn etwas z.B. frech klingt, dann kann man sich gleich fragen, warum eigentlich? Oder was heißt frech, für wen? Warum diese Verniedlichung, fühlt sich wer bedroht?
In Wirklickeit leben überall lauter Leute, die sich mit Konventionen schwer tun, mit einer Gesellschaft, die eigentlich Menschen als Arbeitskräfte für die Wirtschaft ansieht. Also, dass die Masse der Menschenleben eigentlich nur dazu da sein sollen, um eine Wirtschaft am Laufen zu erhalten, die wenigen Profit zuspeist. In dieser Situation, woher soll das Vergnügen kommen? Ist denn irgendwer wirklich mit dem TV zufrieden, oder haben alle nur Angst, sich als arbeitsunqualifiziert zu erscheinen, weil Arbeit wie eine Gnade gehandelt wird? Lyrik würde versuchen, durch Provokation solche Leute aus ihrer Angst herauszulocken. Weil wenn man sich brav benimmt, speist man sich nur selbst als Sklave in dieses System ein, das einen ausbeutet. Aus meiner Sicht könnte die Lyrik Leute dazu ermutigen, das zu machen, was Spaß macht, und weniger Respekt für das Ordentliche oder das Konventionelle zu haben. Aber ich muss auch einsehen, dass die meisten Leute, ich inklusive, Spaß daran haben, zu tun, was sie gut können. Karl Bühler nennt das Funktionslust. Das füttern Kulturprogramme, die die Leute lieber unter- als überfordern. Daher muss die Lyrik so niedlich und sexy sein und mit ihren Provokationen zum Spaß verführen.
Als Produzentni muss man sich aber auch fragen, in welchen Lagen macht es Spaß, oder fühlt es sich notwendig an, sich selbst zu fragen, was ist da eigentlich damit, oder was denke ich eigentlich selber darüber? Woher kommen meine Empfindungen von Abwehr oder Sympathie oder Rührung oder sowas? An diese Orte dann hingehen. Man kann nicht ständig alles immer nur hinterfragen, das ist auch fad.
Stellst du dir deine Leserinnen beim Schreiben vor?
Nein, dazu sind sie ja auch viel zu divers, gerade in den Punkten, die mich interessieren. Ich gehe, glaube ich, von einer theoretisch maximalisierten Diversität aus, die ich bei mir allein schon finde, und denke, dass die Sachen für sich auf eine Art stabil funktionieren sollen.
Das heißt, du schreibst im Angesicht einer generalisierten Anderen, die auch du selbst bist, weil du sie simulierst?
So könnte man es sagen.
Es geht bei Dichtung um den Möglichkeitsraum der Sprache, was geht mit dem System Sprache. Bei Papers und so weiter ist es ja sehr nützlich, da Erstleserni zu haben. Bei Dichtung ist es besser den Text als System zu begreifen. Schönheit hat dann die Funktion einer Hypothese, so wie ein Idealleserni, der gar nicht existieren muss und vielleicht nie existieren wird. Jedre konkretre Leserni nimmt Teilstücke des Möglichen wahr, inklusive dier, dier das Gedicht geschrieben hat.
Schreiben ist auch Benchmarking für dich?
Ja.
Du schaust, bis wo es geht?
Oder wohin: ins Offene hinaus, zum Beispiel, aber mit einem gut gebauten Boot … Und dann gibt es Momente, in denen merkst du, weit geht es nicht?
Es ist eher so die ... meine Kräfte reichen manchmal an einem bestimmten Gedanken nicht weiter. Oder ich vertage. Oder ich habe Fehler gemacht.
Nicht das Interface Sprache endet, sondern du. Das heißt, eine andere könnte kommen und dort weitermachen, wo du aufhören musstest?
Das wär das Ideal.
Was heißt denn da die räumliche Metapher genau, dieses Weiter? Es gibt immer viele Wege. Also wenn man jetzt eine Sache als Weg framet, oder als Wegkreuzung oder so etwas, wären im Gedicht drei, vier Wege versammelt in einem Knotenpunkt oder so etwas, dann sind das Wege, die man auch ganz weit gehen könnte. Was ich hier im Gedicht sehe, ist dieser Knotenpunkt. Ich habe natürlich nicht unter Kontrolle, was am Ende dieser Fluchten passiert. Es sind Momentaufnahmen lokaler Ignoranz. Aber was uns alle an Literatur glaube ich sehr bewegt, ist, dass beispielsweise von einer Frau namens Sappho Gedichte überliefert sind, die immer noch funktionieren. Stell dir vor, du findest einen prähistorischen Sechskantschlüssel und kannst damit in der Gegenwart dein Fahrrad reparieren!
Ich glaube, meine Fragen und deine Antworten reiben schon deshalb aneinander, weil ich mich Metaphern nahefühle, die ein Ende der Sprache nicht nur als möglich, sondern unvermeidlich präsentieren. Da schreibt jemand nicht, bis sich die Sprache nicht mehr aushalten lässt, sondern bis die Sprache nicht mehr aushält, was noch erzählt werden müsste. Mit Celan ließe sich das als die »allereigendste Enge«, als einen ersten und letzten Ort des Schreibens beschreiben. Bei dir hingegen scheint mir ein Relay möglich, eine Übergabe dieser eben noch zutiefst persönlichen und im Wortsinn eigentümlichen Sprache an eine andere, deren Umgang der Sprache mit dem unseren nicht einmal assoziiert sein muss.
Ja, wir bringen sicher eine je sehr andere Gewichtung der Metaphern mit. Konventionell sind sie bis jetzt aber schon. Nur pflegt man halt die eine oder die andere vielleicht mehr oder weniger. Die von dir eben benutzte Metapher der Innerlichkeit etwa ist für mich wenig präsent, weil ich mich eher quasi nach außen projiziere. Celan interessiert mich dementsprechend als Naturbeschreiber eigensinniger Art; als jemand, der verschiedene Fachwörter, Fachvokabulare vernetzt in seinen Gedichten. Er nimmt, sozusagen als Mischgefäß, diese verschiedenen Vokabeln auf und versieht sie mit einer speziellen Aufladung in einem Gedicht, in seinem Gesamtwerk. Für mich ist es wichtiger, dass die Wörter alle woher kommen, auch wenn sie bei einer Einzelperson in einem spezifischen Kontext auftauchen. Der ganze Punkt beim Veröffentlichen ist ja das Rausgeben von Texten, um zu sehen, was mit ihnen weiter passiert und mit der Hoffnung, dass sie funktionieren und entfalten, was ich selbst alleine vielleicht nur ahnen und hoffen konnte.
In der Ausgabe »Deutschland« der Londoner Literaturzeitschrift Granta bemängelt Thomas Meaney in seinem Editorial, dass in Deutschland manch ein Buch nicht ohne die Person dahinter bestehen könnte, die den Text als ihre eigene, persönliche Geschichte enthüllt. Ich verstehe dich nun so, dass, würden wir einen Schriftsteller wie Celan bloß als »Interface« begreifen, der Text wieder entpersonalisiert und damit durch uns benutzbar wird. Ist das richtig?
Schon, schon. Ich würde es natürlich mit Vorsicht sagen, gerade bei Celan, der auf Deutsch schreibt in einem Kontext, dass sein Deutsch nicht einfach als eh unser Deutsch appropriiert werden kann, wir uns aber damit auseinandersetzen müssen, was das heißt. Celans Arbeit mit dem Deutschen kämpft gerade in seiner muskulören Wendegeometrie sehr bewusst gegen die vollzogene Nazifizierung des Deutschen, die Lingua Tertii Imperii. Mit Sprache vertraut umgehen heißt es kennen wie den maquis, wie es im Algerienkrieg hieß, Guerilla-mässig das Gesträuch. Celan kennt das Gesträuch gut und in vielen Sprachen. Da gibt es diese Anekdote, dass Paul Celan, als Heidegger ihn zu einem Spaziergang in Todtnauberg einlud, und ihn vermutlich vollposaunte, immer wieder ins Gebüsch verschwindet und mit Pflanzen zurückkommt, die er Martin Heidegger zeigt, wobei er ihren Namen in vier Sprachen sagt.
Es braucht den Menschen, der eine Erzählung durch seine eigene Person beglaubigt.
Es ist, will ich sagen, auch wenn ich gerne von Interface und so weiter rede, nicht egal, in welcher biografischen Konstellation ein Wort oder ein Satz ausgesprochen wird, gerade wenn die Biografie von so großen Verbrechen tangiert wird, die auch ein sprachliches Gesicht haben.
Und andererseits gibt es Situationen, in denen der biografische Hintergrund egalisiert oder übermalt werden soll. Du selbst hast mich vorhin gebeten, nicht länger nach deinem Leben hinter den von dir veröffentlichten Sätzen zu fragen.
Es wäre zu einfach, es würde ja zu Recht in den Ohren wehtun den Holocaust als Celans Privatgeschichte zu bezeichnen. Es geht genau darum, dass er seine Gedichte veröffentlicht und für sie Leserschaft und Aufmerksamkeit fordert. Er hat damit auch den Anspruch, anerkennen zu lassen, die deutsche Sprache besteht auch aus dem, und das will ich in der Welt sehen. Ein Trotz gegen eine Zurichtung, gegen Blödheit und Dumpfheit, die sich mit den Nazis an die Macht gebracht hat, und der Schwund an Intellektuellen, daran krankt Deutschland ja noch heute. Die Leute fehlen, die in den Lagern und auf dem Weg dahin ermordet worden sind.
Zugleich ist das Dichten Liebe und Überlebensarbeit, was man auch im Austausch mit Bachmann merkt, sie konstruieren sich einen Sprachraum, den sie für ihr seelisches Existieren brauchen. Sprachbenutzung braucht das Vertrauen, dass jemand solche Dinge auch respektiert. Das ist fragil, ich weiß nicht, eigentlich, warum das so wahnsinnig fragil ist. Vielleicht wegen der zusammengenommenen Faschokraft der schottischen Aufklärung und der Nazis, um mal kurz zu reden wie Verschwörungstheoretiky.
Öffentlichkeit ist da eine sensible Feder und ein heikles Thema. Man muss die Kontrolle aufgeben und aus dem Safe Space in die Allgemeinheit raus, zugleich kann das schiefgehen, und geht auch die ganze Zeit schief. Man wird 99% der Zeit völlig missverstanden, damit kann man eigentlich rechnen, und bekommt nie die Chance, das überhaupt zu besprechen, genau so wie wenn man die Straße runter läuft.
Dein Leben aber hängt nicht am Text. Zumindest scheint es, als sähest du keine Bedrohung darin, wenn dein Text von anderen abgelehnt wird.
Das stimmt. Und es verweist jetzt doch wieder auf die Biografie, da ich mich privilegiert fühle, weil ich umgeben von lieben Menschen aufgewachsen bin, wo ich irgendwo keine Grundangst hatte, abgelehnt zu werden, die Familie versteht mich zwar nicht, aber es gibt die bedingungslose Zuneigung. Zugleich war immer völlig klar, dass überall nur Missverständnisse und Quatsch herrschen. Das ist also nie überraschend, ich bin quasi von vornherein zynisch was das betrifft. Es zeigt sich aber auch darin, dass ich vielleicht zuwenig Angst habe, unsicher zu erscheinen, weil ich es ja gar nicht bin. Das weiß man aber nicht. Leute beruhigen mich die ganze Zeit mit »alles gut«.
Und dann gibt es verschiedene Arten, mit Unwägbarkeiten umzugehen. Das eine ist, dass man darauf konservativ reagiert, mit Vorsicht. Oder aber, vor allem, wenn man meint, nichts zu verlieren zu haben, die Logik der Chuzpe, dass man sagt, wer nichts wagt, gewinnt nichts. Celan etwa schuf mit Pathos den Raum, in dem seiner Sprache mit dem nötigen Ernst begegnet würde. Pathos, Stimmung machen geht nur mit so einem Wagemut, vorzupreschen, die Szene zu setzen.
Mit welchem Selbstbewusstsein hältst du deine Poetikvorlesung?
Ich glaube, es ist eine komische Mischung. Einerseits habe ich das Selbstbewusstsein, dass ich die Sprache sehr gut kenne, aber auch eine Art robustes Verhältnis habe, dass ich auch viel irre. Ich bin einerseits perfektionistisch und andererseits mache ich auch viel Unsinn. Ich habe oft Sachen geschrieben oder gesagt, die peinlich sind. Insgesamt greift vielleicht die Strategie, dass Mut ansteckend sein kann, wenn man auf der Bühne scheitert, kann es insgesamt empowering sein. Immerhin passiert etwas, die Zusehernnnie denken, das kann ich besser, und dann machen sie es besser. Da bin ich mir nicht zu schade, so eine Robustheit finde ich gut. Zugleich ist es eine Art Pessimismus und auch Zynsimus, was die Bedeutung des Ganzen betrifft, komm, wir reden hier über sprachliche Geltungssucht, nicht über Sicherheitssysteme, was kann im schlimmsten Fall passieren? Im schlimmsten Fall ruiniere ich mir den Ruf.
Ein bisschen Vertrauen kommt daher, dass das Feld einfach wirklich interessant ist, und wenn insgesamt ein Gespräch darüber gepflegt wird, dann ist es eine Art Arbeit, die kollektiv ist und die passieren soll und die ich auch nicht allein machen zu müssen glauben muss. Ich muss die Gelegenheiten dankbar wahrnehmen, um in solche Gespräche zu kommen. Dabei bestenfalls das Feld auszuweiten oder die Grenzen zu befragen, was geht, oder wie können wir auf Deutsch sprechen. Ich bin dankbar, auch, für meine Lehrernnnie und will die eine oder andere Message helfen, weiterzugeben, ob aus dem Prenzlauer Berger Untergrund oder aus Hawaii oder in meiner Welpenzeit in Wien, wo etwa Czernin oder Wiener mich beeinflusst haben, die im restlichen deutschen Sprachraum niemand kennt, weil sie so Snobs sind: Leute, die ganz spezielle Dinge mit Sprache machen, die gar nicht leicht nachzuvollziehen sind, aber von ungeheurer Schönheit und Klugheit. Ich weiß selber nicht immer genau, was ich vorhabe oder was rauskommen soll für die Zukunft der Literatur, aber ich denke, dass das interessant ist, diese verschiedenen Stimmen und Denkweisen und Hintergründe zusammenzuführen. Und der Versuch, selbst darin zu denken, in diesem fransigen, ausgeweiteten Space, interessiert mich selbst, und die Challenge, zwischen den verschiedenen dialektalen und methodischen Denk- und Schreibweisen etwas zu formulieren so, dass es so als Text verständlich ist.
Und doch wird eine Poetikvorlesungen heute auch vor einem Publikum gehalten, dass es überwiegend gut mit dir meint. Hast du Räume erlebt, in denen du nicht annehmen konntest, dass das, was du sagst, nicht unbedingt satisfaktionsfähig ist?
Ja, und sie sind meist brutal. Lyrik findet wirklich nur an Orten statt, wo Leute Lyrik gut finden, und ist auch dafür geschrieben, deswegen ist das ja so uninteressant.
Ganz feindlich war, als ich für die Zeit schreiben durfte, in einer Art Delphinbecken für Schriftstellernnnie, das hieß »Freitext«. Da waren die Kommentare einfach toxisch, extrem ausführlich und beleidigend auf allen Schienen, man war schwach, schwurbelig, unklar, ahnungslos, was weiß ich was, nur weil man mehrere Gliedsätze benutzte. Feridun Zaimoglu hat es richtig gemacht, jede Woche ein Fax geschickt, in einfachen Sätzen Beobachtungen aus der U-Bahn, sein Honorar kassiert. Ich brauchte vier Wochen Quälerei für einen Text. Weil ich das Feedback nicht aufhören konnte, ernst zu nehmen, ich schreibe ja für die Feinde, nicht für die Freunde, und natürlich begonnen habe, mir sozusagen zu versuchen zu denken, was könnte man bösartig da falsch verstehen oder nicht-verstehen. Wie muss ich schreiben, damit ich all diesen Leuten einerseits verständlich bin, aber andererseits ihnen schon Druck mache, wie falsch sie liegen mit ihren faschistoiden Meinungen. Zugleich die notwendige Verletzlichkeit auch zum Ausdruck bringen, als captatio benevolentiae. Dieser Balanceakt hieß, es gab keine richtige Art zu schreiben, sodass ich für diese Texte jeweils wochenlang nichts anderes machen konnte, als immer wieder zu redigieren, und der Text wurde dabei oft immer schlimmer. Solche Redaktionsprozesse führen, glaube ich, zu nichts Gutem, wenn man nur paranoid schreibt. Irgendwann wurde mir klar, ich muss mir eine andere Schreibsituation bauen.
Natürlich, alle Leute haben mir gesagt, die sind ja nicht maßgeblich, diese Trolls in den Chats, das sind irgendwelche schlecht gelaunten alten Herren, die da gerne Leute fertig machen, und ich sehe ja auch, wenn ich durch den ICE gehe, was für Gestalten Zeit Online lesen.
Aber sie berühren dich trotzdem.
Natürlich. Es ist wie ein Rückfall in Teenager-, Anfang-Uni-Zeit, wo der Normaleindruck war, ich passe einfach nicht in diese Welt, hier gibt es keinen Platz für mich und ich schaffe es einfach nicht. Ganz bestimmt lebe in einer Bubble von Freaks, die Subtilität und Solidarität über Karriere und Anpassung stellen. Andererseits habe ich nicht prinzipiell Angst, mit sozusagen normalen Leuten zu sprechen, was auch immer das heißt. Also Leute, die jetzt nicht der Kunst gegenüber aufgeschlossen sind, diese Gespräche finde ich oft interessant. Aber lieber eins zu eins, während in manchen medialen Interfaces ich für die irgendetwas repräsentiere, das für sie ein Feindbild darstellt. Es geht auch um den Veröffentlichungsfame, der Neid hervorruft, und das ganze Theater mit Blumen und Lob und Verriss wird auch gemacht, um dieses Thema immer präsent zu halten und die Lesenden abzuhalten von einem eigentlichen Ernstnehmen der Literatur, wie in Süd- und Mittelamerika etwa.
Ich frage mich gerade, ob es also einerseits bestimmte Mittel gibt, die es zum Schreiben braucht und dann nochmal ganz andere, die es braucht, um als Schreibende überdauern zu können. Und ob die Mühe, die es braucht, um selbst mit dem Text im Reinen zu sein von jener Mühe unterschieden werden muss, die dem Bauen, Einrichten und Sicherstellen des Raumes gilt, der dafür nötig ist.
Gut formuliert, interessanter Gedanke.
Im Reinen sein, das ist so formuliert keine Kategorie für mich; aus dem Unreinen geht was weiter. Der Text muss in der Welt irgendwas machen und muss das effektiv machen, auch wenn es keine Namen dafür gibt, was das ist. Harmonie, richtig verstanden, inkludiert Assonanzen und Dissonanzen, aus denen Dynamiken entstehen. Ich brauche etwa die städtische Infrastruktur, die Nähe von vielen Leuten, die wahrscheinlich nicht so viel wild denken, sondern extrem verlässlich U-Bahn fahren oder so etwas, und die zu recht genervt sind von Leuten, die nur die experimentelle Kultur hoch bewerten. Wo der Künstler auftaucht im Hinze Kunze Roman von Volkerbraun, das ist köstlich. Was ich nicht habe, sind Widerstände gegen das rationale Denken. Ich versuche, genau gegen diese Dichotomie der Zuschreibungen anzukämpfen. Viele Aggressionen sind aber nachvollziehbar, und jede Übertreibung ist es sowieso. Das eine Muster ist, dass Leute selbst Opfer bringen, um in relativ rigiden Strukturen Leistungen zu erbringen, was schwierig ist und viel Energie kostet. Die sehen dann Leute, die privilegiert im Sinn von kriegen Geld für kreative Arbeit, für die sie gelobt werden, auch wenn es scheiße war. Dass darauf aggressiv reagiert wird, verstehe ich. Mich turnt es ja selber ab, dieser verlogene Betrieb. Aber es geht bei Sprache natürlich quasi um Resonanz, man braucht Verlage und Medien. Wir sollten natürlich alle mehr tun, um sie zu korrigieren.
Kann ich dich so verstehen, dass der Redaktionsprozess, von dem du eben gesprochen hast, auch daher kam, dass es dir nicht darum ging, den Text selbst zu rechtfertigen, sondern dein Schreiben als solches?
Es ging mir nicht um Rechtfertigung, sondern um Kommunikation. Und wie erwähnt ist es mir natürlich am wichtigsten, mit Leuten zu kommunizieren, die nicht von vornherein derselben Meinung sind. Gleichzeitig war ich vielleicht auch manchmal zu polemisch in den Formulierungen, vielleicht unterschätze ich auch manchmal, wie komisch meine Formulierungen rüberkommen können, und dass Leute mit dem Urteil draufhauen, statt ein zweites Mal hinzuschauen, besonders wenn sie sich wie um 2010 vor den totalen Doomscroll-Apps noch durch Artikel in Onlinezeitschriften quälten und sich dann bei irgendwem für die eigene Quälerei entschädigen wollten. Ich habe mitunter auch selbst mit Wut im Bauch geschrieben und versucht da noch Kränkungen einzubauen für solche Leute, wenn sie sie nur verstanden hätten. Das merken die Leute natürlich und nehmen es nicht ganz zu unrecht übel.
Bereust du, dass du in der Antizipation dieser dummen oder gewaltvollen Einwände bereits Kränkungen eingebaut hast?
Gar nicht. Vielleicht gehört es zu meiner Kampftechnik, sich verprügeln zu lassen. Es ist eindeutig, dass ich schon mit Wunden in den Kampf hineingehe, die anderen aber auch. Es ist sehr leicht, sich über misslungene Sätze aufzuregen. Das Schreiben ist Arbeit. Das Kritisieren ist auch Arbeit. Insofern gemeinsame Zeitverschwendung, wie die Diskussionen in der Eckkneipe. Was ich bereue, ist glaube ich, dass ich nicht schlauer war und mir selbst nie eien Erstleserni gesucht habe, der*die eine vernünftige Zwischenebene eingeschaltet hätte, auch schon als Vorstellung. Ich habe alles immer alleine gemacht und war dabei zwischen zwei Polen aufgeteilt; zwischen dem einen Ich, das sich sozusagen vorauseilend als sprachunfähiges Würschtel fühlt, das nie jemand verstehen wird und das fast unfähig ist, deutsche Sätze zu bauen, und andererseits dem Übermut, der einkickt im Rausch der Formulierung, wo ich weiß, ich kann solche Sätze bauen, die sich in euren Bauch einschleichen wie ein Parasit und euch von innen auffressen. Aber gut, dass ich aufgehört habe, es gibt nämlich guten Journalismus, der solche Kämpfe ein bisschen beruhigt, statt sie nochmal aufzuheizen.
Erscheint dir dein Schreiben manchmal utopisch?
Auf der Inhaltsebene nein, auf der performativen Ebene vielleicht. Also wenn die Utopie daraus bestünde, dass man Texte lesen kann, ohne schnell mit Vorurteilen zuzuschnappen, dann ist das eine Art Utopie oder Raum, der durchs Performieren eben solcher Praxen etabliert wird. Es ist auf der inhaltlichen Ebene keine Utopie in dem Sinn, dass ich sagen würde, wie ich denke, dass es sein sollte.
Zuletzt hast du eine Anleitung geschrieben.
Plural. Der Titel ist Die Anleitungen der Vorfahren. Es ist nicht eine Anleitung und es ist vor allem auch nicht meine Anleitung.
Aber es ist dein Name, der über diesen Anleitungen steht. Gibt es da nicht auch eine instruktive, hinweisende, helfende Absicht, die mit dir, der du dieses Buch geschrieben hast, einhergeht?
Ich würde es als Weiserbündel verstehen im Sinne Wieners. Ein Weiser zeigt in Richtung Kyoto-Schule, einer zu der Strenge, die in der hawaiianischen indigenen Kultur die Norm darstellt. Eine von sehr vielen lokalen oder indigenen Strengheiten, die man aus meiner Sicht respektieren sollte. Man kann sie nicht einfach übernehmen oder sich aneignen, aber es tröstet mich ungemein, dass es sie gibt in der Welt. Dass es gut formulierte Systeme gibt, die besser funktionieren, als der gegenwärtig universalisierte, moderne koloniale Eurozentrismus, die mithilfe der Schriftkultur auf die ganze Welt gespreadete Misswirtschaft.
Dass das alles mit Sprache zusammenhängt, ist dabei ein wichtiger Punkt für mich. In den hegemonial gespreadeten Sprachen sind Strukturen, die nicht inhärent böse sind, aber vielleicht eine Tendenz zur Missbräuchlichkeit haben und zur Ermöglichung und Deckung von Gewalt geeignet sind. Sie sind vielleicht auch zu stark. Alles muss immer wieder auch zerstört werden oder sich dem Vergehen hingeben. Nenne es Poetik der Verrottung.
Das konventionelle Verstehen soll gestört werden.
Aber nicht weil es konventionell ist. Die guten Ratschläge sind auch konventionell. Einige Hauptzerstörungswürdigkeiten sind etwa die Gewohnheit zu verallgemeinert: Da Erfolg gut ist, wird oft gefolgert dass möglichst viel Erfolg möglichst viel gut ist, zum Beispiel. Bigger is better, more is better. Nur weil etwas in einem Kontext in einem Moment gut ist, heißt das nicht, dass man mehr davon braucht. Es war interessant, als Hannes Bajohr eine KI-Version von Monika Rink, Steffen Popp, Daniel Falk vielleicht, und mir gemacht hat. Die Gedichte waren doch viel origineller. Die Kreativität war noch viel besser als bei mir selbst vorhanden. Aber die haben viel längere Gedichte geschrieben als ich. Ich höre schneller auf, und das hat mir irgendwas deutlich gemacht, dass es nicht nur darum geht, irgendwie, was weiß ich, kreativ zu sein oder etwas zu produzieren – was konventionell als Gutes angesehen wird –, sondern vor allem auch zu stoppen.
Unser Gespräch bis hierhin gibt mir den Eindruck, dass das Spiel für dich ein wesentliches Mittel im Umgang mit der Sprache ist. Nicht das Spiel, das an ein Spielfeld gebunden ist und das Regeln gehorcht, sondern jenes Spiel, das ein Spiel ist, indem es diese überwindet. Die für mich nächstliegende Form des Sprachspiels beginnt bei der Homophonie, dem Gleichklang mancher Wörter, der jedoch nie dafür sorgt, dass sie für uns auch dasselbe bedeuten.
So haben wir das erste Mal an einem Abend gesprochen, der mit »An der Unterseite der Sprache / The Downside of Language« überschrieben war, also diese Bedeutungsverschiebung bereits im Titel getragen hat. Und deine erste Assoziation war damals, dass das englische »down« nicht nur das deutsche »unten« bedeutet, sondern zum Beispiel auch die Daunen bezeichnet, mit denen wir das Kissen stopfen, auf denen wir schlafen. Welche Funktion hat diese Form des Spiels für dein Schreiben?
Ja, ich muss da auf die Begriffsbestimmung zurückgehen, was meinst du genau mit Spiel? Eher Wittgenstein oder eher Huizinga?
Spiel im Sinn von »zweckfreies Rumtun mit Sachen«, eine Kunst, die Kinder können und man irgendwie verlernt kann ich gar nicht, ich brauch ein McGuffin, ein vorgebliches Ziel, um meine Wichtigtuerei zu triggern. »Experimentieren«, mit dem Wort kann ich viel eher beschreiben, was ich tue. Oft wird Spiel, Sprachspiel genannt, was auch mal unter Sprachkunst firmiert, es mag von außen so aussehen, wenn man sozusagen ungewöhnliche Dinge mit Sprache macht oder auf andere Wege kommt, als ersten Gedanken oder Reflex, als gewöhnlich in der Disziplin der regulären Sprachverwendung abgerufen werden. Aber das ist deswegen für mich jetzt kein Spiel, es ist sehr ernst, es ist ein Arbeiten mit Eigenschaften der Sprache für meine Zwecke.
Das heißt, das Spiel beschreibt deine Arbeit nur insofern, als es an einem bestimmten Zweck ausgerichtet ist. Und auch Intuition wäre deshalb ein Gegenbegriff zum Spiel als ein »Rumtun mit Sachen« insofern auch sie, der Rationalität ähnlich, absichtsvolles Handeln ist.
Ja, und dann gibt es noch das Spiel im technischen Sinn, wenn ein Gelenk etwa ein Spiel hat, oder ein Kugellager, was nicht gut ist. Spiel in diesem Sinn ist etwas Wichtiges und Spezifisches, das mich eigentlich sehr interessiert. Aber das ist einfach ein Spielraum in Wirklichkeit. Den brauchst du in der Gesellschaft und den will ich natürlich mit meiner Dichtung sozusagen ausweiten.
Also beschreibt das Spiel deine Arbeit höchstens so wie der Freiheitsgrad in der Mechanik die Möglichkeit unabhängiger Bewegung beschreibt. Ist das ein Ausrechnen unterschiedlicher Varianten wie es die Spieltheorie verlangt?
Das wäre ziemlich genau meine Arbeitsdefinition von Intuition, dass man das durchaus übersetzen könnte in so eine Art Rechnerei: Was sind die Optionen? Ja, also ich glaube, eine KI oder so, wenn man versuchen würde, ihr kreatives Arbeiten beizubringen, dann würde das ungefähr so ausschauen, dass da die sprachlichen Optionen da sind und sie hätte dann ästhetische Kriterien – die sie jetzt sehr mangelhaft hat – um Auswahlen zu treffen, die sicher mehr dem ähneln könnten, was jetzt biologische Dichternnnie machen.
In der Spieltheorie gibt es jedoch nicht nur ein initiales Set an Optionen, sondern ihr Nutzen lässt sich entlang bestimmter Prämissen auch berechnen.
Sie sind vereinfachte Modelle, klar. Also in diesem Modell ist dann alles berechenbar, das Modell hat dann ein gewisses Verhältnis zur Realität. Das ist die Definition von Spiel in diesem Sinn und der Grund, warum man es Spieltheorie nennt und nicht Wirklichkeitstheorie.
Es bleibt eine Unschärferelation.
Du opferst auch nie zweimal den selben Bauern. Und natürlich ist Sprache selbst auch so eine Art von, ich sage oft Granulation, also so eine Vergelenkisierung durch so oder anders bündelnde Vokabel, die in jeder Sprache anders ausschaut und die ermöglicht beziehungsweise verlangt, dass wir diese kategorischen Trennungen machen. Hier hört der Tisch auf und das Bein fängt an und so weiter. Ob du »in« mit Dativ und mit Richtungsakkusativ benutzt, oder dafür zwei Wörtchen hast. Da geht auch oft Homophonie in Synonymie nahtlos über.
Also ist ein Wortspiel mit Homonymien wie, dass die Bank, auf der wir sitzen, nicht gleich der Bank ist, bei der wir unser Geld lagern, obschon sie dieselbe Buchstabenfolge haben, nur insofern interessant ist, als es uns darauf hinweist, dass die Sprache selbst ein Modell ist, dass sich destabilisieren und hinterfragen lässt.
Hegel, über den wir spät am Abend noch gesprochen hatten, verwendet das Wort Aufhebung in seiner Dialektik gleich dreifach: erst als Negation, dann als Aufbewahrung und schließlich, integrativ, als Erhöhung, als eine Erhebung auf eine höhere Stufe. Anders als beim Beispiel Bank gleich Sitzgelegenheit und Bank gleich Geldhaus gibt es hier einen innere, gerichtete, eben dialektischen Beziehung. Sind es Strukturen wie diese, die du erkunden möchtest?
Ja, erkunden. Und wir wollten ja sowieso über das Wortspiel sprechen. Der Fall Spiel ist ja genauso ein Fall, dass ein Wort mit derselben lautlichen Gestalt einfach mehrere Bedeutungen hat, die distinkt voneinander sind, aber weil es gleichlautend ist, im Alltag oft verwechselt werden oder einfach unklar ist, worüber man gerade spricht, das passiert häufiger, als man denkt. Oft weisen solche Wörter in die Wissensgeschichte, man kann strukturelle Metaphernkomplexe zum resonieren bringen. Im Prinzip bin ich immer für Disambiguierung. Auch ein gutes Scharnier braucht eine enge Fassung. Dichterisch sind Homonyme interessant, weil man damit Tricks machen kann.
Aber da gibt es bei dir ein strategisches Interesse, nicht?
Natürlich, sonst uninteressant. Also, wenn ich, sagen wir, die Option eines Wortspiels habe, dann entscheide ich mich, möchte ich dieses Wortspiel eigentlich vermeiden, damit ich meine Klarheit behalte, oder möchte ich es einsetzen. Viele Dichternnni ergreifen jede Gelegenheit und sehen das irgendwie als Mehrwert, wenn es mehr Bedeutungen gibt. Aber ich denke, man muss gute Gründe haben und in der Selektion zeigt sich, ob man weiß, was man tut oder nicht – wie im Baumarkt.
Es bedarf einer diskreten Beziehung zum Modell.
Auf jeden Fall. Das heißt nicht unbedingt, dass dieses Verhältnis von vornherein bewusst sein muss. Das Unbewusste arbeitet bekanntlich mit Wortspielen. Dass man weiß, das es nicht stimmt, schützt einne gewissermaßen vor den Gedanken, die man dank Wortspiel so trotzdem haben kann.
Neben den homonymen Mehrdeutigkeiten, bei denen ein Wort zwei ganz unterschiedliche Dinge bezeichnet, die miteinander sonst nichts zu tun haben, gibt es auch solche, bei denen sich näher betrachtet – man könnte sagen: against the odds – dann doch ein innerer Zusammenhang erkennen lässt. Sind diese die interessanteren?
Nee, würde ich jetzt nicht generalisieren. Die Option, etwas völlig Unverbundenes, das zufällig durch ein gleichlautendes Wort verbunden ist, als Witz zu benutzen, ist auch super. Gerade weil sie nichts miteinander zu tun haben, ist es knackig. Ich frage dich auch nicht, sind Chips oder Joghurt besser? Mal willst du Chips, dann wieder Sehnsucht nach Joghurt. Speziell die, die jetzt etymologisch gemeinsame Hintergründe haben, find ich häufig nicht so interessant, du kannst halt figurae etymologicae damit machen, wenn du das willst. Man muss aber eher aufpassen, wenn sie zu nahe sind, dass nicht einfach nur Verwirrung oder Verwischung stattfindet.
Dir geht es um den ausgestellten Unernst?
Ironie kann heißen, der demonstrative Unernst verweist auf einen strukturellen Ernst. Monika Rink sagt, Dichtung ist Non-Fiction, und ich glaube, sie würde auch zustimmen, Dichtung ist Slapstick. Punkt. Und Slapstick ist natürlich eine Art Ballett, ein strukturelles Kunstwerk, das sich in Raum und Zeit abspielt und mit Memes arbeitet. Und der Spaß ist etwas, was nie direkt die Betrachterni angeht, idealerweise, und daher die ideale Trägerform einer ernstgemeinten Botschaft. Du kannst dich gegen Pathos wehren, du kannst dich gegen Mansplaining wehren – aber gegen richtig gute Komik haben die Leute wenig Abwehr.
Das heißt, du suchst nach einer komischen Dichtung.
Nun hast du mein tiefstes Geheimnis erfahren (lacht). Und dann kann man sich wundern, warum es so wenig Gags gibt … vielleicht geht es darum, dabei im Rampenlicht zu scheitern. Ein erfolgreicher Clown ist ja nicht mehr lustig, das ist der Fluch der Berufskabarettistennnie. Ich habe als Teenie eingehend Bölls »Ansichten eines Clowns« studiert, ich kenne mich aus.
Bedauerst du, nicht als komische Dichterin erkannt zu werden?
Lustige Frage. Ja eine gewisse Humorlosigkeit begleitet das Stichwort Lyrik, aber die Leute sind umso dankbarer, wenn sie mal lachen dürfen. Als Monika Rinck, Sabine Scho und ich die »Rotten Kinck Schow« gemacht haben, wurde immer viel gelacht. Mein Versepos ist auch ein einziger Unsinn von vorne bis hinten und das wird auch geschätzt. Bei Humor gibts viele Sorten und es ist nicht alles für alle gleich lustig, ist auch normal.
Könnte es nicht auch sein, dass Literatur immer noch für eine ernste Angelegenheit gehalten wird und sich das Publikum deshalb verbietet, auch mal aus der Haut zu fahren, bei einer Lesung zu lachen, anstatt andächtig zu lauschen oder wie in einem Seminar mitzuschreiben?
Das habe ich gelegentlich gehört, dass Leute meinten, sie hätten fast gelacht und sich nicht ganz getraut haben, weil es eine Lyrik-Lesung war. Je nachdem, was man von Lyrik will, betont man das eine oder andere. Wäre ja unangenehm, wenn Leute zum Lachen kämen, wie bei Poetry Slam oder Standup. Ich denke es so, Komödie ist die bottom line, die Tragödie so eine Art Vorwandstruktur. Ich persönlich kann das ganze Leben, die ganze Welt nicht so richtig ernst nehmen, schon wenn man das mit dem Gender bedenkt, das ist alles zu albern.
Weil das Geschlecht zufällig bestimmt ist?
Zum Glück, wenn man mir sagen würde, das hat etwas zu bedeuten, dass du ein Mädchen geworden bist, dann wäre ich ernsthaft böse. Mit dem Zufall habe ich kein Problem. Das ist eine Erklärung, die ich gut akzeptieren kann. Aber trotzdem: Du schlägst die Augen auf, du bist ein Mädchen, denkst, das kann ja nicht wahr sein, wie soll ich unter diesen Umständen vernünftig arbeiten?
Für die Zuweisung deines Geschlechts gab es keinen Grund.
Keinen Grund, keine Funktion und sie funktioniert auch nicht. Ich empfinde es als eine Art absurden Befehl, Sachen zu machen, sich um Sachen zu kümmern, die einen überhaupt nicht interessieren.
Du spürst einen inneren Widerstand gegen Befehle?
Wer nicht?
Es gibt Menschen, die sich mit ihrem Dasein leicht arrangieren können.
Ich kann das schon auch. Ich mag zum Beispiel so klare Aufgabenstellungen und so. Weil dann merkbar ist, woran man ist, was von einem gewollt wird. Unangenehm ist, wenn von einerm gewollt wird, etwas selbst zu wollen. Das ist das psychologisch Unangenehme am Kapitalismus. Du sollst unbedingt bestimmte Dinge wollen, das ist eine reine Unterstellung der schottischen Aufklärung, auf die ganze Welt projiziert, aber wenn dich diese albernen Ziele nicht motivieren, dann wird dir unendlich von Jobcenter bis sonstwohin suggeriert, du wärst irgendwie im Kopf defekt.
Das heißt, es gibt Räume in deinem Leben, für die du dir ein Raster, eine Anweisung, eine Aufgabe wünscht. Und dann gibt es Räume, die nur bestehen können, wenn es all das nicht gibt.
Ich bin vielleicht ein bisschen klaustrophob, brauche weniger Schutzräume als Luft. Es macht einen Riesenunterschied, ob man in einer klaustrophobischen Situation ist und dann von einer Übermacht einen Befehl bekommt, oder ob man von einer Instanz einen Befehl bekommt, wo man sich dann umsehen kann: Was passiert, wenn ich das nicht mache, was passiert, wenn ich das anders mache, und was passiert, wenn ich umdrehe und den Befehl kritisiere oder frage, warum nicht ich befehle. Nur unter diesen Bedingungen habe ich den Spielraum, um einen fairen Kampf zu führen.
Auch die Aufgabe hat mehrere Bedeutungen. Sie semantisiert einerseits einen Auftrag, etwas, das gemacht oder erledigt werden soll, eine imaginäre Stelle, zu der man hin soll, und andererseits eine Auflösung oder Scheitern dessen. Und dann steckt in ihr natürlich auch die Gabe, die immer eine Richtung hat. In Jean Pauls Hesperos oder 45 Hundsposttage kann der Erzähler die Geschichte nur deshalb erzählen, weil sie ihm durch Briefe, die ihm ein Hund bringt, berichtet wird. Und letztlich gibt auch er selbst seinen Text an uns weiter.
Ich will jetzt keien Partykillerni sein, aber Gabe hat im Deutschen gerade dieses Bündel von Bedeutungen. Und genau diese Bedeutungen werden in anderen Sprachen von völlig unverwandten Wörtern jeweils übernommen.
Also das Aufgeben eines Briefes, das Kapitulieren, das Auflassen einer Bushaltestelle und die Aufgabe und das Geschenk, das vielleicht mit einem Auftrag verbunden ist. Man kann schon so ein Bündel sehen, wie das Marcel Mauss, der über die Gabe geschrieben hat, so als Entwurf einer fast universal gedachten ethnografischen Hypothese. Die Spuren, denen er nachgeht, sind sehr interessant. Petra Coronato gab mir ein schönes Buch von Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität,. Darin betont er, dass wir alle in einem Netzwerk von vorgeschossenem Vertrauen leben und es den Beziehungen schadet, zu schnell Schulden zurückzahlen zu wollen, als wollte man von dieser Beziehung frei sein. Die Schuld, in der man steht, ist wie so ein Gewicht, an der eine Schnur hängt, die gespannt sein sollte, um die Beziehung lebend zu halten. Die Gabe, als something with strings attached, verstärkt die Zwanghaftigkeit in der Reziprozität der Beziehung. Wenn du nicht alle Menschen lieben willst oder kannst, brauchst du solche Strukturen.
Something with strings attached, auch das ist eine Metapher.
Ja, man sagt es ja so in Kontexten, wenn etwas vordergründig wie ein Geschenk aussieht, aber die Erwartung besteht, dass da ein Gegengeschenk oder eine Gegenleistung erfolgen soll.
Ist das Geschenk nicht eine Gabe ohne Gegengabe?
Ja, ich würde vermuten: ohne direkte. Es ist länger her, dass ich Mauss gelesen habe, ich hätte jetzt erst mal Scheu da ganz zuzustimmen, so ganz blank, dass die Gabe eine ohne Gegengabe ist. Vielleicht doch genau in dem Sinn, dass sie keine direkte, also man kann sie nicht, vielleicht nie erledigen, sondern sie soll offenbleiben, damit auch irgendwie der Zufall oder der Kosmos oder dieser ganze Korpus von dem, was passieren kann und wo wir alle ausgeliefert sind im Schicksal, damit das ganze Spiel im Spiel bleibt durch das Netzwerk von Schulden, die nicht drücken, sondern eher singen wie Telefonleitungen im Wind, so eine Art Saitenspannung.
What goes around, comes around, die Zirkulation flicht den sozialen Teppich. Ich las einmal ein Paper gelesen, wo jemand die Begegnung mit der Diaspora aus den Fiji-Inseln, die mittlerweile auf der ganzen Welt verteilt leben, zum Thema nahm, um zu beschreiben, wie sie einander als komplett verstreutes, aber doch verwandtschaftlich markiertes Netzwerk ständig aushelfen. Die haben über viele, viele Generationen im kollektiven Gedächtnis, wer wem, auch mit sehr großen Dingen ausgeholfen hat, und wann, ob das jetzt Geld zum Aushandeln oder zum Hausbauen oder so etwas war. Bei jederm Fijianeri, die diese Person irgendwo in der Welt getroffen hat, hatten sie erst mal ein langes Gespräch, um herauszufinden, auf welche verzweigte Art sie verwandt sind, und um dann diese Beziehungen zu erneuern durch wieder sehr große gegenseitige, aber vorerst einseitigen Hilfsleistungen. Auch in Japan – auch ein, wenn auch sehr großes, Archipel – war ich beeindruckt von der Größe der Dienste, die man sich gegenseitig schenkte – das Bedürfnis, dafür zu bezahlen oder irgendwie hastig sich irgendeine Gegenleistung auszudenken, fühlte sich gleich schäbig und kulturlos an, es wurde mir nach und nach klar, dass hier lebenslange Vernetzungen gegenseitiger Hilfe weitergeknüpft wurden. Nichts wird vergessen. Man ist in diesem Netzwerk von Sinn aufgehoben und natürlich auch gefesselt. Übrigens zeigt sich da ja auch, warum es Gegengabe heißt, um die Verbindlichkeit abzuwehren.
Wäre eine Gesellschaft des Gebens dann nicht dadurch bestimmt, dass die Gaben, die wechselseitig aneinander gerichtet werden, weder abhängig voneinander noch äquivalent zueinander sind? Das man nicht Gleiches mit Gleichem vergilt, sondern gibt, ohne Buch zu führen?
Unterschiedliche Werte ja, aber man hat das alles genau auf dem Schirm. Man muss es nicht, soll es nicht genau zurückzahlen, die Werte sind ja auch relativ, rechnest du, was es mich kostet, den Arbeitswert, oder, was es dir bringt, den Gebrauchswert? Das ist übrigens auch nichts »Exotisches« aus Fernost, hier am Land ist es genauso. Man kennt es ja. Wenn einre immer nur nimmt, weiß es das ganze Dorf. Wenn jemand viel Hilfe braucht und bekommt und nur in der Lage ist, einen Kuchen zu backen dafür, dann wird das auch hingenommen. Das ist sozusagen ein symbolischer Akt, der das quasi anerkennt, aber jeder weiß irgendwie, dass auch eine Dankbarkeit übrig ist, was sehr gut ist, und das kollektive Wissen und die Überzeugung verstärkt, dass Buchhaltung nicht alles ist, das manche Dinge einfach passieren müssen, wo man im christlichen Kode sagt, Gott vergelts.
Es wäre nicht länger eine Gerechtigkeit, die sich buchhalterisch errechnen lässt.
Ich glaube, es ist schon buchhalterisch auf eine Art. Aber das Ziel ist nicht auf gleich zu kommen, sondern das Ziel ist eigentlich immer weiter im Umlauf zu bleiben. Wie Kleingeld, auch der Flow von Kleingeld hat noch diese physische Albernheit, dass der Zufall da auch eingreifen kann oder sowas. Das wird eben nicht genau abgerechnet, damit da noch etwas in Spannung bleibt. Das mit der Kartenzahlung ist eine Art Verkürzung.
Das heißt, es gibt schon ein Verzeichnis. Eine solche Gesellschaft schreibt sich auf, du hast mein Dach repariert, soll ich dein Bad neu fliesen? Eine Erfahrung, die ich selbst nie gemacht habe, die mir aber unzählige Male von meinen Eltern und Großeltern, die noch in der DDR gelebt haben, mit leuchtenden Augen beschrieben wurde. Diese Gabe mit verzögerter, aber sicher einlösbarer Gegengabe wurde nie als Tausch klassifiziert, sondern, sozialistischer, als Hilfe. Aber einen unsichtbaren Saldo, den gab es. Diese Form des Zusammenlebens gibt es heute immer weniger.
Ja, und das ist, glaube ich, das Teuflische. Der Pakt mit dem Teufel, der Extraktivismus: die Idee, man könnte sich ganz viel herausnehmen und einfach weggehen.
Also ein Nehmen, without strings attached.
Diese Intention, genau. Und ich glaube, das Perfide ist, wenn Täternnnie jetzt sagen, ja, okay, ich sehe es ein, ich möchte bestraft werden, damit es wieder gut ist, und die Opfer sagen, nee, es gibt keine Möglichkeit, dich zu bestrafen. Es geht nicht um dich, es wird aber nie wieder gut. Die Idee von Gerechtigkeit ist jünger, glaube ich. Carl von Linné schreibt noch von Nemesis Divina.
Und was macht man dann?
Krepieren wahrscheinlich. Aber langsam, das ist das Blöde. Es geht ja nicht so schnell, die ausbleibende Strafe, die Unmöglichkeit, sich aus der Schuld zu befreien. Die Bestrafung, könnte man sagen, wurde eingeführt als Infrastruktur, die die Delikte ermöglicht.
Das alles, das Gefühl für Maß und was Tinguely Statik nennt, also Bewegung in Balancen, lehrt den Geschmack. Und ich meine, es ist jetzt schon vieles sehr ästhetisch ärgerlich. Natürlich, in jedem Jahrzehnt kann man sich vorstellen, dass Leute vor 100 Jahren denken würden, um Gottes Willen, das ist ja schon die Dystopie, wo ihr lebt. Alles asphaltiert, keine Blumen im Frühling, gefliest und sauber, dysproportionierte Plexiglaskonstruktionen auf den Balkonen, irgendwie chemische Duftstoffe nach Lavendel, was die Leute sich so vorstellen, wie sie es haben wollen. Und genau das schaut aus wie die Hölle für andere Augen.
Ist das die Apokalypse?
Ja, eine ästhetische Apokalypse des Wohlstands. Es ist genau, was viele Leute wollen, aber ich glaube, die wissen eigentlich nicht wirklich, was sie wollen, und nehmen, was als wollenswert angeboten wird. Also so eine Kapsel mit Aircondition und nichts spüren, möglichst viel Kontrolle haben über Geld. Nicht zuviel Welt. Welt, man kennt das ja, sie ist irgendwie dreckig und verfaulend und bringt alles durcheinander und da muss man wieder putzen. Aber ich habe das Gefühl, solche Leute bestimmen die Welt gerade.
You get what you pay for.
Es ist verdammt teuer eigentlich. Aber wenn man sich die Hände nicht schmutzig machen will, dann zahlt man dafür, und dann kriegt man genau das und dann fehlt irgendwie der Dreck. Aber wenn man sich auch das vorstellt als Transaktionen, deren Wert vielleicht nicht bestimmt ist, aber die ganz bestimmt irgendwie einen haben, dann kann es ja auch Jahrtausende dauern, bis da irgendwas zurückkommt. Das kann dann die Nachfahrenni treffen. Auch wenn es total überstrapaziert ist, diese modische Rede von Gespenstern, finde ich ganz interessant als animistische Narrationsform von Realitäten, die nicht mit dem Tod erledigt sind.
Es geht jetzt wieder in eine total schräge Richtung. Ich glaube, ich hole noch mal Zigaretten.
Je länger wir sprechen, desto mehr wirkst du ruhelos auf mich. Ich sage das, obschon ich weiß, dass du diese Verbindung von Ästhetischem und dem Leben ringsum nicht magst. Ich frage mich, ob das an dem Ort unseres Gesprächs liegt, der nicht dein Zuhause ist. Wir sitzen vor diesem Gartenhaus, dass das Aargauer Literaturhaus zu einer Residency umgebaut hat. Eigentlich lebst du in Wien und Berlin. Doch auch dort würdest du, sagtest du gestern als es längst dunkel war, nicht bleiben wollen. Du sagtest, lieber würdest du in Japan leben. Ich habe den Eindruck, dass du die Ort, an denen du gerade bist, ständig verlassen möchtest. Zeit dich einzurichten, einzulassen, diese Zeit kannst du höchstens für die Menschen aufbringen. Und so hast du mir dein Zuhause beschrieben: als die Menschen, zu denen du immer wieder zurückkehrst, zu denen du auch nur zurückkehren könntest, wenn du denn möchtest.
Wortwörtlich dasselbe hat mir Mareile Fellien vorgeworfen, die die Bilder zu Hauptwerk gemacht hat und auch die Wirtin war der Rumbalotte, wenn ich je eine Stammkneipe hatte, dann damals die, von Bert Papenfuß und Mareile Fellien. Ja, sicher bin ich auch auf eine blöde Weise am Rotieren. Das macht der Betrieb mit einem auch. In den Nullerjahren hieß es »easy jet set«, beruflich rumreisen auf niedrigem Niveau, aber nicht ganz so romantisch wie Vertreternnnie. Ich würde nicht kokett sagen, dass ich komplett anders lebe, als ich leben will. Andererseits würde ich dieses unstete Leben auch nicht apologetisch beschreiben.
Wann hat das angefangen?
(Überlegt lange) Es hat bestimmt Wurzeln in der kolonialen Lebensform meiner Familie. Kein Entschluss, irgendwo sich anzusiedeln, um wirklich dort zu sein. Man lebt meist sehr oberflächlich, argumentiert pragmatisch, entwickelt keinen starken Bezug, romantisiert das. Und das geht aber auch Generationen zurück. Das heißt, es ist einfach nicht so, dass man ein Netzwerk von verwandtschaftlich verbundenen Leuten oder einen Ort gibt, wo man hingehört. Es gibt auf der Welt keinen Ort, wo irgendwer in unserer Familie wirklich hingehört. Unentschlossenheit zu bleiben ist für mich der Normalpegel, weil es einfach der Normalzustand war, wie ich aufgewachsen bin. Aus einem Jahr wurden zwei Jahre und drei Jahre und vier Jahre. Aber nie hat jemand wirklich beschlossen, wir bleiben jetzt hier, wir richten uns ein, versuchen uns zu integrieren, fühlen uns von der Politik betroffen. Zu einem gewissen Grad schon, aber da war immer etwas wie eine gläserne Wand.
In Brechts Buckower Elegien heißt es, »Ginge da ein Wind / Könnte ich ein Segel stellen. / Wäre da kein Segel / Machte ich eines aus Stecken und Plane«.
Ja, das ist viel, viel schöner als »Gib du mir Steine, ich bau dir ein Haus« (schmunzelt) .
Aber bedeutet das nicht ein prekäres Leben?
Nicht unbedingt. Also wenn man segeln kann, dann braucht man ein Segel. Wenn man für das domestikalische Leben begabt ist, dann ist es das, was man braucht. Ich dachte, nachdem ich dich zum Zug gebracht habe, dass ich mich am meisten draußen als ich fühle, unterwegs, und sicher nicht in Innenräumen. In Innenräumen akkumuliert sich irgendwas, wo ich mich verpflichtet fühle, das irgendwie zu managen.
Jeder Mensch hat seine Höhle.
Wie meinst du das?
Im Höhlengleichnis ist die Höhle ein Ort der Illusion …
Ja, platonisch. Ein Strauß braucht nur ein bisschen Sand, um es sich in die Augen zu streuen?
… Für Hans Blumenberg ist sie jedoch auch ein Schutzraum, nicht nur vor konkreten Gefahren, sondern vor dem Absolutismus der Wirklichkeit als solchem, vor der sich uns aufdrängenden Welt da draußen, der wir nur zeitweise entrinnen können.
Wo zuhause sein kenn ich am ehesten als genaue Kenntnis. Wenn ich nach Wien oder Berlin komme und ich kenne mich aus, brauche nicht Google Maps oder was weiß ich was schauen. Oder wenn ich weiß, wie ich meinen Freund zum Lachen bringe.
Die rumzieherische Tradition ist logischerweise viel ungeschriebener, weil materielle Aufzeichnungen nichts sind, was man mit sich rumschleppen möchte. Wir hatten bei Triedere zwei Musiker eingeladen, die viel Archivforschung für Volksmusik betreiben. Simon Wascher hat betont, dass es immer ganz viele Fahrende gab, oft jüngere, nicht erbende Geschwister, die dann mit verschiedenen Überlebensstrategien unterwegs waren. Oft sind es Teil-Sesshaftigkeiten, die hatten ja Bases. Aber es ist nicht so, als wäre man als Nomadni freier. Erst recht ist man abhängig von Netzwerken des Handels und der gegenseitigen Hilfe. Als ich in der Wüste in Algerien war, merkte ich auch abhängig man ist von einem Netzwerk von Leuten, die einem halbwegs freundlich gesinnt sind oder zu einem Austausch bereit für vernünftiges Geld, die mich nicht ausnehmen und ich nehme sie nicht aus. Also Vertrauen und Respekt gegenüber Fremden. Ein offenes Netzwerk um die ganze Welt. Die Vorstellung, man könnte unabhängig sein, auf einem Grund und Boden, das einem gehört, und dann irgendwie autark leben, verstehe ich als Phantasma schon auch, aber es ist nicht realistisch. Vielleicht geht das in Oberösterreich. Nu, vielleicht kommt daher »Ort der Illusion«, wie die eigene kleine Welt die Leute einspinnen kann, dass sie die restliche Wirklichkeit vergessen. Mich beeindrucken feine Kenntnisse ohne Besitzansprüche. Dann bist du halt da und kennst dich aus, da ist diese Biegung im Fluss, dort kann man gut arbeiten, da kriegt man Kratzeis, hier wohnt ein Freund, und da, und da. Statt alles um sich zu horten.
Die nomadische Existenz bedeutet nicht eine Abwesenheit von Struktur. Sie findet ihre Struktur in der Kenntnis der Wege; begreift im Lesen der Spuren.
Ich will das Nomadische nicht zu sehr mit Pathos aufladen. Meine Mutter hat mir, wahrscheinlich weil ich so wahnsinnig viel spazierte, Bruce Chapman geschenkt, ein Australier, der das nomadische Leben verherrlicht, sehr nervig. Wenn daran was Gutes ist, dann die Notwendigkeit von Respekt und die Kunst der Spurenlosigkeit. Mit Ausnahmen. Aber wohlüberlegt, nichts peinlicher als geschwätzige Wegweiser. Die ersten Schriftzeichen waren ja Wegweiser, also Pfeile in Steine geritzt oder so etwas. Also Zeichen in Kontexten. Ein Pfeil hat für sich allein keine Bedeutung, nur indem er plaziert wird. Ein kleiner Eingriff, eine Spur, die vielleicht jemandne anderne, dier diesen Weg geht, auf etwas hinweisen könnte. Ich mag diese präzise Offenheit auch in der Schriftarbeit, im literarischen Sinn. Ich schreibe immer in einem Kontext, ich schreibe nicht im luftleeren Raum. Aber es ist trotzdem auch nicht von vornherein bekannt, was damit passiert. Im besten Fall ist ein Weiser aus einem Kontext für jemanden, dien ich noch nicht kenne. Und jemand anderre schreibt es weiter, korrigiert, kommentiert.
Hier sind Wörter nicht Punkte, sondern Vektoren, gerichtete Linien. Und auch das lässt sich als Frage der Mehrdeutigkeit lesen, bestehen doch die interessanteren nicht im einen oder anderen, sondern lesen das eine im anderen und umgekehrt. Im Hieroglyphischen hat beispielsweise ein und dasselbe Zeichen sowohl »stark« als auch »schwach« bedeutet. Die Interpretation hing an der Beziehung des Menschen zu seiner Situation.
Und es gibt auch altus im Lateinischen, was hoch-tief bedeutet. Es gibt einige Beispiele dafür.
Ich habe den Eindruck, dass unser Missverständnis zu Beginn dieses Gesprächs, als ich dich fragte, ob du dich eher auf der Seite der Intuition oder auf der Seite der Rationalität sähest, daher rührte, dass wir Unterscheidungen normalerweise disjunktiv vornehmen: entweder ist es so oder eben so, nie aber beides zugleich. Eine genaue Bestimmung wird durch diese meistens hilfreichen Unterscheidungen manchmal aber auch unmöglich.
Wenn die Antwort so ein allgemeines Statement sein soll, zier ich mich. Es ist sogar eine Art Reflex, auszuweichen. Ich weiß schon, dass solche Entweder-Oder-Fragen oft bloß Diskursgeneratoren sind. Ein Missverständnis, bringt das Gespräch ins Rollen.
Das ist auch die Funktion der agonalen Tradition, der Idee, dass durch Besprechen was rauskommt. Die Vorstellung, es gebe ein Interface, das allgemein maßgeblich wäre, in dem dann wahre Aussagen möglich sein sollen, kommt mir ganz albern vor. Dieses deduktive Rumdiskutieren ist rein strukturell von vornherein ein sophistisches Terrorsystem, besonders, weil so gebaut, dass man es ständig literalistisch missversteht. Aristoteles selbst hat Sachen oft klug definiert. Das waren Setzungen, die Möglichkeit, durch Gliederung genauer über Sachen sprechen zu können. Was immer sinnvoll ist. Die späteren Schulmeisternnnie haben diese tentativen Formulierungen Aristoteles’ zu einem dumpfen System einsacken lassen.
Und doch hast du dir neben dem literarischen Schreiben auch noch das wissenschaftliche Schreiben ausgesucht, das, wenn man es denn so betreibt, eine andauernde Reibung mit dem Bestehenden provoziert.
Es ist mir gerade ein Anliegen, das flat zu sehen, also dass eine literarische Beschreibung der Welt, oder eine poetische, die weniger beschreibt als vielleicht Sprechakte parodiert oder etwas noch Undefiniertes macht, und ein wissenschaftliches Schreiben, das sich maximal um Klarheit und Nachvollziehbarkeit bemüht, dass das verschiedene Punkte auf einem Spektrum sind, dessen, was man mit Sprache in Bezug zur Welt machen kann. Diese verschiedenen Strategien ergänzen sich. Ich mag auch zum Beispiel diese Haibun-Form, die Prosa, in der ein Haiku oder Tanka eingebettet ist. Leider ist in Europa quasi das Haiku als kleines Objekt der spirituellen Selbsterkenntnis oder was weiß ich was rausgepickt worden, aber im Grunde sind diese Gedichte immer in einem Kontext verankert, zum einen in die Schreibszene, zum anderen in die gesamte Literaturgeschichte, auf die mit einer Silbe, einem Motiv, einer Gestik verwiesen wird.
Lässt sich das poetische-literarische Sprechen mit dem wissenschaftlichen Sprechen glaubhaft verbinden?
Ja, sie werden immer im Kontrast zueinander erzählt, also eben mit diesem Entweder-Oder, aber ich denke, dass sie einander ergänzen, und schließlich benutzen sie die Sprache als gemeinsames Medium.
Geht es dir auch um ein intransitives Schreiben, das nur für sich besteht, und nicht immer auch schon für andere?
Das muss nicht sein. Erstens ist die Sprache ein extrem öffentliches Tool. Es ist eher so, wie wenn man jetzt sagt, ich benutze einen öffentlichen Bücherschrank oder eine öffentliche Toilette oder ein öffentliches Verkehrsmittel. Und da habe ich natürlich für mich ein Erlebnis dabei, aber ich benutze eine Infrastruktur, die allen zur Verfügung steht und das ist genau das Berührende dann. »To make sense of myself« heißt, eigentlich unartikulierte oder sich aufstapelnde, unübersichtlich gewordene Eindrücke irgendwie so auszulegen, dass genau diese Wand zwischen »mir« als einer Art Innenraum und einer Außenwelt, die vielleicht bedrohlich wirkt, weil immer noch mehr kommt, also um diese Grenze quasi wieder aufzulösen durch Beruhigungsarbeit oder Formulierungsarbeit, die eben dagegen arbeitet, dass ich denke, niemand kann mich verstehen und ich verstehe Außen nicht, sondern merke, ich bin innen mit derselben Sprache, mit derselben Formensprachen und so weiter strukturiert, die auch Außen wirken.
Ich glaube, deswegen ist die Natur manchmal so tröstlich oder wohltuend, weil ich merke, irgendwie verstehe ich schon, wie die Bäume wachsen oder wie die Vögel zwitschern. Aber es ist auch Asphalt manchmal beruhigend, aus ähnlichen Gründen: Man sieht, dass jemand sich bemüht hat, dort eine gangbare Fläche zu machen und something about this kindness lässt einne sich willkommen fühlen.
Und doch unterschlägt das den materiellen Unterschied, den es macht, wenn du, Ann Cotten, einen Text schreibst, der veröffentlicht wird, der seine Leseschaften finden wird, und wenn jemand, einzig und allein für sich schreibst. Marlene Streeruwitz behauptet, dass Lyrik prinzipiell privat bleiben sollte.
Das sagt sie allgemein über Lyrik? Kann ich nachvollziehen. Also viel Lyrik, denke ich, gehört dahin, vielleicht. Aber es ist ein bisschen so wie Gitarristenni oder sowas auch. Ich kann irgendwie auf einer Gitarre rumklimpern und Töne oder da auch etwas über mich herausfinden oder etwas über die Gitarre herausfinden, etwas über Harmonielehre. Aber das ist etwas anderes als jemand, der jeden Tag übt und eine Begabung und eine Obsession und sehr, sehr viel Arbeit da reinsteckt und dann einfach eben Benchmarking betreibt, um so ein bisschen abzustecken, was möglich ist.
Ich rede jetzt ein bisschen von meinem Mann Takashi Doi, der Gitarrist ist und zwar manch ärgerliche Tendenzen, aber jedenfalls eine massive Obsession hat und nichts anderes tut, als sich für diese Feinheiten des Gitarrenspiels wirklich zu interessieren. Obsession heißt einfach, dass da etwas Unwillkürliches dabei ist und auch mithin Opfer der Fungibilität in anderen Bereichen gebracht werden. Hingabe klingt zu heroisch, Obsession finde ich einen guten Ausdruck, weil irgendwie ist man eien Versagerni in anderen Lebensbereichen wie Haushalt oder Politik, weil man so viel Energie willkürlich und unwillkürlich auf etwas Spezielles geleitet hat.
Besteht Schreiben letztlich in eben dieser Hingabe?
Das klingt jetzt sehr moralisch. Simone Weil nennt es supplicance intérieure, ich nenne es Wetten.
Ich meine das nicht moralisch.
Öffentlichkeit heißt für mich, dass es einen Resonanzraum gibt; eine Landschaft von deutschsprachiger Literatur und von internationaler Literatur und ich kenne die nie vollständig, aber ich habe da eine gewisse Orientierung und was ich tue, ist eine Setzung aus einem Baumblatt unter Millionen in diesem Wald gewissermaßen. Angesichts dieses Kontexts kann es sein, dass ein Gedicht sich gut eignet als Setzung, irgendwie Sinn macht. Das beurteilt ein anderer Teil von mir, meistens später. Auch Artefakte haben manchmal ihren Wert oder ihre Rolle. Die Nicht-Absicht spielt manchmal eine wichtige Rolle.
Die Lösung von Problemen sehen oft in den richtigen Antworten. Dabei könnte sich Forschung auch im Suchen nach den richtigen Fragen beweisen. Joseph Vogl schreibt, dass wir längst unzählige Antworten in den Händen halten, aber die Fragen noch nicht kennen.
Ich glaube, ich weiß, was du meinst: Dass etwas gelingt und man weiß gar nicht, was es ist, aber dass es irgendwie gelungen ist, aber noch auf das Einsatzgebiet wartet. Das ist in Bezug auf Design interessant. Bei eien Designerni im Atelier gibt es auch solche Gegenstände, die extrem praktisch sind und man weiß nur noch nicht für was. Oder, ich glaube, der Sänger der Band Dritte Hand, Mario Schlager, hat über das Songwriting gesagt, dass es Textzeilen gibt, die ihn seit einem Jahrzehnt begleiten, bis sie dann ihren Platz in einem Lied finden oder das Lied ausformuliert. Songwriting ist ja ganz interessant, weil es um einiges mehrschichtiger ist als das Lyrikschreiben alleine, weil es dann auch um das Zusammenfinden einer Textzeile mit einem Harmoniewechsel und einer Melodie und vielleicht auch einem Arrangement oder einem lick geht, also so einer Art Gitarrengeste. Rein rechentechnisch kommt man da um Intuition nicht herum. Sicher kann man nachher meistens listenhaft nachvollziehen, was für Komponenten in der Überlegung drinstecken. Aber im Moment der Aktion ist die Abkürzung der Weg, mit komplexen Auswahlen zurechtzukommen. Man kennt das doch, man sitzt vor einem Synthesizer und man hat 300 Plugins und woher soll man wissen, wo man da anfängt zu spielen überhaupt?
And I'm not sure if I'm going to be able to sleep tonight.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I'm going to sleep in my bed.
I just had to think about another expression.
I just had to think about another expression.
In English it's called making ends meet.
In English it's called making ends meet.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
In German it's called ending.
Ich habe dich vorhin nach deiner Ruhelosigkeit gefragt, in der Arbeit, in der Sprache. Wünschst du dir heute eine Pause?
Also wovor ich mir eine Pause sehne, ist die Eventkultur. Als Kulturschaffende wird man von Event zu Event, von Angelegenheit zu Angelegenheit geschasst, und das auch auf dem eigenen Desktop. Ist natürlich übertrieben, und niemand hindert mich daran, hinzuschmeißen und Lehrerin zu werden. Also mein Beruf besteht hauptsächlich darin, von Gelegenheit zu Gelegenheit zu gehen und sich immer wieder neu auf irgendwas, was sich jemand anderer ausgedacht hat, einzustellen. Also ich muss auch zugeben, dass es auch eine sehr schöne Art zu arbeiten ist und mir ermöglicht, immer wieder mit neuen Leuten zusammenzuarbeiten, und mir das auch sehr gefällt. Es geht auch nicht darum, dass ich mit dem Fremdbestimmten ein Problem hätte. Im Gegenteil bin ich oft dankbar, wenn sich jemand anderer etwas gedacht hat, weil ich auch selber gerade im strukturellen Denken nicht so gut bin, schon gar nicht bezüglich Events. Da gehe ich gerne in die Strukturen anderer Leute hinein und fühle mich dankbar, dass man eine Aufgabe für jemand wie mich darin vorgesehen hat, die ich dann versuche, zu erfüllen. Für die Arbeit am PhD bräuchte ich allerdings einfach längere Strecken, wo ich kontinuierlich arbeiten könnte. Wenn ich aber mal eine habe, merke ich mit Bestürzung, dass ich erst lernen müsste, wie man das überhaupt macht, mit längeren Strecken zum ruhigen Arbeiten weil ich es so gewohnt bin, immer wieder unterbrochen zu werden von dieser oder jener Aktualität oder notwendigen Reise oder so etwas, die auch ihre sofortigen Befriedigungen oder Besäufnisse mit sich bringen, sodass ich mich dabei ertappe, geradezu noch so etwas zu suchen. Eine professionelle Deformation, von der ich ein bisschen eine Heilung erwünschen würde, mir erarbeiten muss.
Das wäre dann keine Pause in der Arbeit, sondern überhaupt die Ermöglichung einer Arbeit mit neuer Seriosität. Möchtest du die eine Arbeit, die nicht von dir kommt, für jene Arbeit unterbrechen, bei der alles von dir kommen muss?
Es geht nicht um ich oder die anderen. Die Wissenschaft ist zumindest von der Form her viel fremdbestimmter. Vielleicht ist Selbstdisziplin das Stichwort. Zeitmanagement. Skills und Vorstellungen, wie man von einer Idee zu einer verwirklichten Sache kommt. Jetzt wiederhole ich alle PhD-Klischees. Mit der Zeit ist es so, dass ich lange denke, wenn ich bloß Zeit hätte, würde alles von selbst gehen. Dann habe ich Zeit und ich schreibe nur Scheiß. Diesen Frühling hatte ich drei! Poetikvorlesungen. Eine Poetikvorlesung ist natürlich eine tolle Gelegenheit zur Reflexion. Ergebnis dieser Reflexion ist bei mir oft, dass ich mir an den Kopf greife. Es ist absurd, wie meine ganze Arbeitsweise so determiniert ist von diesem eventbasierten Geldverdienen darin. Was aber auch daran liegt, dass ich nicht so gut darin bin, proaktiv Arbeitsstipendien zu suchen. (Komme nicht dazu.) Die ganzen ICEs sind voll mit Leuten, die irgendwie unbedingt körperlich in einer anderen deutschen Stadt wegen irgendeinem wichtigen Scheiß präsent sein müssen. Das könnte man sicher reduzieren, diese Rumfahrerei, indem man digitale Formate verstärkt nutzt.
Warum braucht es diese Präsenz?
Fetischismus, und die provinzielle Vorstellung von Literatur- oder Kulturveranstaltungen, die eine Bühne für lokale Wichtigtuerei sind. Autys sind da nur der Vorwand. Ich sollte nicht so darüber schimpfen, sonst ist diese Einnahmequelle weg, und es gibt ja wirklich Schlimmeres, als sinnlos vorzulesen und sich dann zu besaufen. Der Ekel kommt vom Gefühl, dass das Repräsentieren mir die Zeit fürs Arbeiten wegnimmt. So einfach ist das eigentlich. Das ist die Form, die manchmal tatsächlich wehtut, wenn man offensichtlich für das Repräsentieren bezahlt wird und nicht für die eigentliche Arbeit, nicht für das, was wichtig ist. Und dann fühlt man sich natürlich irgendwie naiv, zugleich missverstanden und zweckentfremdet, als würde man von Seiten der eh sehr großzügig fördernden Kulturpolitik als gesichtsloses Meeple, um eine kulturpolitische Agenda zu erfüllen, gebraucht.
Glaubst du, dass es anders ginge?
Grundgehalt! Bedingungsloses Grundeinkommen. Ich bin keine Volkswirtin und habe nicht die kämpferische Überzeugung, dass das alle Probleme lösen würde. Aber ich finde es ein interessantes Gedankenspiel, dass die Gewichtung komplett verändern würde und vielleicht auch ermöglichen würde, die Scheinlogiken des Verdienens in Frage zu stellen.
Banales Thema, aber es nimmt gefühlt zu, dass man im Vorfeld eines Gigs Angebote erstellen, Verträge unterschreiben muss, danach noch eine Honorarnote natürlich. Das ist lästig, vorallem aber illusorische Paranoia. Solche Einladungen zu kulturellen Funktionen beruhen auf Vertrauen, da helfen auch keine Verträge, wenn man sich nicht versteht und am selben Strang zieht. Aber es wird immer mehr formalisiert, wie ja auch bei Klempner und Bauer und Zeitarbeiterni, und wenn die Bürokratie gefühlt Vorrang hat vor allen inhaltlichen Fragen, macht es mir Angst, mit was für Leuten habe ich es hier zu tun?
Also besteht die Erschöpfung nicht im Schreiben selbst?
Wenn ich Ruhe habe zum Schreiben, ist es das Entspannendste überhaupt. Natürlich gibt es dann auch eine andere Spannung, aber die hat irgendwie einen Sinn. Das Umschalten wird für mich immer anstrengender, das muss die Verkalkung oder die Zunahme an Kompetenz sein. Das habe ich früher vielleicht weniger empfunden, aber vielleicht auch weniger gemacht insgesamt. Das Mindset, das ich brauche, um eine Excel-Tabelle auszufüllen und Steuererklärungen zu machen, und das Mindset, das ich brauche, um überhaupt nachzudenken oder einen Text zu schreiben, ist wirklich wie eine schwere Tür, die man umlehnen muss.
Der eigentliche Punkt, den ich machen wollte, war ja, dass dieser Trugschluß von messbarer Leistung und angemessener Bezahlung, dass diese – wie nennt man so etwas? Eine irgendwie zu kurz gedachte Objektivierung oder so, als würde das Objekt bezahlt, als wäre das eben eine »Leistung". Und die verschiedenen, absurden Gehälter, die für verschiedene sogenannte Leistungen bezahlt werden. Vor diesem Hintergrund ärgert da mich besonders die Scheinkorrektheit der Bürokratie, abgesehen von dem, dass es mich so nervt.
Wünscht du dir, dass sich die Verhältnisse harmonisieren?
Ich scheue mich gegen den kitschigen Klang dieses Ausdrucks, aber ich habe viel Respekt für einige Aspekte der konfuzianischen Harmonie. Lehren der transdualen Balance sind daoistisch und viel älter als Konfuzianismus, also Konfuzianismus ist ja dann eher so eine konservative, moralistische Variante. Es gibt einen schönen Aufsatz von Zhang Zairong über Transdualismus, wo er die scheinbekannte Figur von Yin-Yang so präzisiert: Es ist eben kein Entweder-Oder, sondern Entweder-Und. Und das geht nicht mit der Regel der ausgeschlossenen Mitte des Aristotelismus.
Wir erzählen uns unser Leben meistens durch Kontraste …
Ja, deswegen finde ich den Punkt von Zairong da sehr, sehr treffend, es ist nicht um ein Haar weniger deutlich als bei der ausgeschlossenen Mitte. Es heißt auch, dass die Identität in Relation zu verschiedenen Kontrasten aufgespannt ist, aber sich nicht in seiner Container-Metapher als Abschirmung oder Abkapselung gegen eine Außenwelt positioniert.
Machst du dir heute ein Bild von deinen nächsten Jahren?
Vielleicht komme ich zu einer synthetisierenden Arbeitsweise im Spektrum zwischen Lyrik und akademischem Schreiben. Alm Anfang wollte ich, dass das Akademische nichts mit der Lyrik zu tun hat und ich endlich diesem merkwürdigen Lyrik-Business den Rücken kehren könnte. Ich neige ein bisschen zu solchen überdramatisierten Abschieden oder so etwas. Oder so cleanen Cuts.
Mic Drop?
Was?
Mic Drop.
Mikrofon auf dem Boden?
Das ist doch auch ein Bild, nicht?
Ah, das höre ich zum ersten Mal. Klingt wie der Alptraum eines Ton-Technikers (schmunzelt).
Das kommt, meine ich, aus dem Battle Rap. Man spricht die letzte harte Line und dann wird das Mikrofon symbolisch, manchmal aber auch buchstäblich, fallengelassen und man geht einfach von der Bühne, weil es nichts mehr zu sagen gibt.
Ich mag das ganz ruhige Gehen, aber ohne viele Worte. Was aber fast dramatischer ist, als wenn man das moderiert und sagt, ja, liebe Leute, das ist die letzte fünfte Abschiedstour.
Aber genau, nach dieser Drama-Queen-Wendung zur Universität merke ich, ich muss doch überlegen, wie ich die Art von Schreiben, wie ich es gelernt und praktiziert habe, integrieren oder produktiv machen kann? Mit dem akademischen Anspruch, ordentlicher zu zitieren, konstruktiv und teamfähig zu formulieren statt immer zu randalieren, etwas geordneter vorzugehen, ohne deswegen die Seele auszuschalten, um es so auszudrücken. Ich merke, wenn ich das so konzipiere, als würde ich mein bisheriges Leben, wie so oft, in den Sand stecken und mit 42 von Null anfangen, werde ich einfach eine schlechte Akademikerin. Die Leute haben auch nicht ganz unrecht, die selbst in akademischen Karrieren stecken und sagen, eigentlich spinnst du, du hast viel mehr Freiheiten, du könntest einfach ein Buch schreiben, das muss gar nicht diesen akademischen, formalen Kriterien entsprechen. Das stimmt wohl. Aber ich suchte eben mehr Rigorosität, und kritischeren Austausch und eine Schärfung der Begriffe, etwa zum Sprechen über Literatur oder über Satzbau, und zwar übergreifend zwischen Lyrik, Prosa und anderen Textsorten, weil das für mich keine separaten Genres sind.
So gesehen, bist du eine, die gerade nicht geht, sondern bleibt und sich den Herausforderungen, die ebenfalls bleiben, stellt?
Ich gehe und komme wieder zurück. Idealerweise mit einer neuen Motivation, neuen Perspektiven und verbesserter Laune.
Es war immer so meine Antwort auf Blödsinn, Subtilitäten auszudrücken, also Gewalt mit Subtilität, so à la Clockwork Orange oder osteuropäische Fluchkunst, so etwas. I tua ollas mit Gwoit, wöi ma des aso gfoit (Konrad Bayer). Ich liebe die Kraft von Worten und Sätzen usw., jemandem etwas Neues zu sagen, etwas, was dier nicht schon erwartet. Aber ich freunde mich dabei mit der Harmonie an, versuche es zumindest nach Kräften, weil ich eingesehen habe, dass es um Resonanz geht. Resonanz kann man schon auch als forced betrachten. Es ist jenseits von Wille, von Willen. Es resoniert, ob man will oder nicht, wenn man es richtig macht. Das ist schon geil. Also die Physik davon.
Ist das Anti-Sesshaftigkeit?
Ich muss mich da nicht sonderlich wehren. Ich müsste mich darum kümmern, sesshaft zu werden.
In seinem ersten Roman schreibt Kurt Drawert von der Heimat, die wir immer verlieren: »Denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in einem selbst nicht gibt. Und heimatlos sind wir doch alle.« Kannst du dich mit dieser Ansicht verbünden?
Wie ich Heimat definieren würde ist ein Netzwerk von Leuten, mit denen man in solchen Beziehungen ist, dass gezwungen ist, sich mit Konflikten auseinanderzusetzen Wenn es leicht ist, wegzugehen, dann kann es passieren, dass man bestimmte Einsichten nicht vollzieht, weil man ihnen immer wieder ausweichen kann. Andererseits kriegt man sicher durch das Herumziehen andere Erkenntnisse wieder mehr. Anthropologisch normal ist eine größere Verwandtschaft jenseits der stumpfsinnigen Kleinfamilien und auch nicht im Sinn von Menschen oder eine blutsverwandte Sippe gegen andere Sippen, sondern inkl. Berge, Flüsse, Göttennnie, was modisch More-than-human genant wird. Leute, Ältere, die das Recht haben, einem etwas zu sagen. Das kann auch mal eine Coladose sein. Was mich ärgert, wenn ich mal wegen Arbeit und Verquastheit zu viel Zeit innerhalb einer eigenen Wohnung verbringe, ist, dass die Kleinigkeiten so groß werden. Das merkt man auch an anderen Leuten, die zu viel alleine sind, dass sie dann zwischen großen und kleinen Problemen nicht unterscheiden können. Sie sind getränkt im eigenen Shit. Heimat hat insofern sicher mehr Gefahren als Vorteile, aber wenn lokale Verwurzelung und Verstrickung für mich einen Sinn hat, dann eben in dieser Möglichkeit Kritik zu empfangen. Verpflichtung auch.
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen einem Weiterziehen im extraktivistischen, kolonialen Sinn, und nomadischen oder halbnomadischen Lebensformen, wie es manche Völker der First Nations beispielsweise praktiziert haben. Statt Anhäufung von Besitz im physischen Sinn an einem Ort gibt es ein Netzwerk von Geschichten, Verwandtschaftsbeziehungen, Genealogien und Verpflichtungen, die sehr streng eingehalten werden. Es ist ein hartes, forderndes Leben, bestenfalls entschädigt die Schönheit für den mangelnden Komfort. Genau im Gegensatz zu den Prinzipien des Designs im 21. Jahrhundert. Aber du wüsstest, so kann es im Prinzip gehen – im Gegensatz zur grundlegenden Panik extraktivistischer Lebensformen, wo du weißt, dass es so überhaupt nicht geht, und einfach trotzdem weitermachst. Kognitive Dissonanz ist Standard in der globalen Moderne. Ich will indigene Lebensformen jetzt nicht romantisieren, aber ökologisch gesehen ist es so. Als jemand mit kolonialer Herkunft muss ich mir eine Heimat erst lernen.
Produktion: Giulia Romani, Holm-Uwe Burgemann
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann
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