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#59 Alice Oswald

#59 Alice Oswald: 46 Minuten im Leben der Dämmerung

von Max Farr

Ich spreche in Umwegen. Sie führen mich zur Wiederholung dessen, was schon gesagt worden sein wird, und sie führen mich zur Differenz dessen, was auch gesagt worden sein könnte. Ich, meine Stimme, spricht zu Anderen – aus mir spricht eine Andere. Die lyrische Dichtung hat diese Struktur immer schon gekannt. In ihr scheinen jene auf, die im Gedicht sprechen. In ihrem Vortrag wiederholen sich die Stimmen als gesprochenes Wort. Wenn Alice Oswald ihre Gedichte, auf Lesungen, stehend und auswendig vorträgt, vertraut sie auf die Stimmen ihrer Lyrik, und ihre Gedichte vertrauen sich der Wiederholung durch ihre Stimme an.

zwei töne sind zu dieser schlafenszeit
vernehmbar
wenn einer sich umdreht den gram
bis ans kinn zieht und die füße
sind unbedeckt
zunächst: der ton wenn sich alles
wiederholt
dann dies: der ton wenn sich alles
wiederholt

Es ist Mittsommer, 4:17 Uhr in der Früh. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Sie steht, um genau zu sein, sechs Grad unter dem Horizont, und die Morgenröte erscheint. Wie jeden Morgen trifft die Morgenröte auf Tithonos, ihren Liebhaber, der seit vielen Jahren, fünftausend, um genau zu sein, nicht sterben kann und doch altert. Tithonos, dessen Stimme zu hören sein wird, für 46 Minuten zwischen der Dunkelheit, in der die Vorstellung um 4:17 Uhr beginnt, und dem Sonnenaufgang, der Tithonos verstummen lassen und das Treffen der Liebhaber beendet haben wird.
So zumindest gibt es die Einleitung vor, mit der »Tithonos«, das Gedicht, beginnt. Es ist eine trügerische Einleitung. Nehme ich sie bei ihrem Wort und verstehe das Gedicht als Vorstellung in einem theatralen Sinne, wird Tithonos zu einer Rolle und seine Stimme von derjenigen gefüllt, die seine Rolle in diesem Vortrag einnimmt. Dann höre ich eine Stimme, die mit einer anderen spricht, die durch einen anderen Körper spricht. Oder die performance ist eine Aufführung; eine exemplarische Aufführung der ritualisierten Begegnung von Tithonos und der Morgenröte wie sie nie stattgefunden hat und sich seit fünftausend Jahren jeden Morgen wiederholt.

und höre mich durch einen spalt
im kopf die ganze horizontlose frage
der sehnsucht prüfen
das muss das herz sein das müssen
meine intimsten gedanken sein
das ist nur ein traum

Zwischen 4:22 Uhr und 4:25 Uhr steht die Sonne etwas höher, einige Nachkommastellen im Grad näher am Horizont als um 4:17 Uhr. Die bald aufgehende Helligkeit kündigt sich als Frage an und der Tau liegt auf den Blättern, wirft mit Blicken um sich. Der Horizont hält sich derweil noch bedeckt. So bedeckt, dass das sehnsüchtig erwartete Aufscheinen des Horizonts in der Morgenröte noch von einer fragenden Unsicherheit belegt ist. Die Unsicherheit der Frage zeigt sich in der Möglichkeit einer ablehnenden Antwort, im möglichen Ausbleiben einer Antwort. Wer die Stimme hebt, um eine Frage zu intonieren, macht sich empfänglich für Zustimmung wie für Ablehnung und Zurückweisung. Die Unsicherheit der Frage ist zugleich die Verlockung der Sehnsucht: die Frage nach dem Auftauchen der Linie, die die Anwesenheit der Anderen anzeigt. Die Horizontlinie erscheint im Aufflammen des Himmels, im Zeichen der Morgenröte. Die Frage der Sehnsucht trägt in sich die Furcht vor dem Nicht-Erscheinen. Ihre Erwartung mag nur ein Traum gewesen sein. Und die Sehnsucht auf immer nur eine Frage.

Es ist eine Frage, die ich mir stelle, in der ich mich, in der das Ich sich hören kann. In der die Stimme, die »ich« sagt, eine zweite Stimme zu hören bekommt, die ebenfalls »ich« sagt, und die das Ich auf Herz und Kopf prüft. Die eine Stimme des Tithonos beginnt, sich aufzufächern in viele Stimmen. Sie sprechen von einem Mann von fünftausend Jahren, und von ihnen höre ich, wie sich das Ritual der Begegnung vollzieht.

sobald eine stimme im schlaf weiter
streitet wie eine feile die aggressiv
hin und her ratscht
klingt nicht wie ein mann klingt mehr
wie die stimme eines instruments
sehr klein
also wiederholt sich der gedanke und
der mund öffnet sich und der körper
beginnt zu etwas tragbarerem
zu schrumpfen
das bin ich alt nur halb da noch nicht
weg schon fang ich wieder an

Zwischen 4:17 Uhr und 4:22 Uhr hängt die Düsternis noch in der Luft, mehr als diffuse Schemen sind im sich anschleichenden Morgen kaum sichtbar. Eine Stimme schläft keinen ruhigen Schlaf. Eine Stimme schläft nie einen ruhigen Schlaf, macht nicht Laute, sondern Geräusche mit einem Körper, der zum Instrument geworden ist. Für den Moment ist der Körper nur ein Instrument, ein nicht tragbares noch dazu, ein reichlich unhandliches Instrument also. Die Stimme und der Körper streiten, und erst in der Wiederholung des Gedankens finden Mund und Stimme zueinander. Der Körper {schrumpft: Eos, die Göttin der Morgenröte bittet Zeus um Unsterblichkeit für ihren Gatten Tithonos. Weiterhin der Alterung ausgesetzt, schrumpft Tithonos ein, bis Zeus ihn in eine Zikade verwandelt. Seitdem begleiten die Zikaden die Morgendämmerung.} auf ein tragbares Maß: Ein Körper, der eine Stimme tragen und von einer Stimme getragen werden kann. In der Wiederholung findet die Stimme zum Ich. Das Ich ist noch nicht voll, noch nicht ganz da. Ich bin nur halb da, und deswegen fange ich noch einmal an. Ich wiederhole den Gedanken, wiederhole das, was schon gesagt worden ist, und komme so zu mir.
Im unruhigen Schlaf macht die Stimme Geräusche, ohne zu einem Ich gefunden zu haben. Und zugleich höre ich von dieser Stimme. Ich höre nicht die Geräusche, die sie macht. Ich höre, dass es diese Stimme gibt und welche Geräusche sie macht. Dass sie sich wiederholt, dass das Ich erneut und immer wieder von vorne beginnt. Ich höre eine Stimme, die sprechen kann, ohne auf ein Ich vertrauen zu müssen, die die Sehnsucht nicht nur als Frage, das Ritual nicht nur in seiner Brüchigkeit kennt, sondern auch in seiner erfolgreichen Aufführung. Eine Stimme, die dem Fließen der Erinnerung vertraut, sobald, stehend, der Mund sich öffnet.

sobald die morgenröte ein stern dann
plötzlich keiner dann blau dann blass
und die ganze erscheinung immer nur
aus der rückschau erkennbar jetzt schon
zu spät schon fast weg

Kurz vor 5:03 Uhr, wenn die Sonne den Morgen in Strahlen gesägt haben wird, beginnt der Schock der Morgenröte zu verklingen, die als Erinnerung wieder und wieder auftaucht. Das Licht ihrer Erscheinung erreicht mich aus einer Vergangenheit, die meine Gegenwart ist. Ich wende mich zurück, der Vergangenheit zu, um zu erkennen, was jetzt schon weg ist, und vertraue darauf, so die letzten Momente der Nähe einfangen zu können.
Momente, in denen die Sehnsucht und ihre Erfüllung, Tithonos und die Morgenröte, die Stimmen und das Ich sich nahekommen. Momente, die durch die Erinnerung zugänglich werden. Erinnerung, die stimmhaft geworden ist in der Wiederholung.
Der ritualisierten Wiederholung:

Text: Alice Oswald, 46 Minuten im Leben der Dämmerung (S. Fischer 2018)

Produktion: Max Farr, Simon Böhm, Holm Burgemann

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