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#41 Jean Cocteau

#41 Jean Cocteau: Thomas der Schwindler

von Konstantin Schönfelder

Ein Lügner lügt planvoll; der Schwind­ler schwindelt von ganzem Herzen. Des­wegen ver­wechselt er die Wirklich­keit mit seinem Phantasma, deswegen vertraut er seiner eigenen Nar­ration und bewegt sich darin mit somnambuler Sicherheit. Nicht aus der Notwendig­keit, die sich aus der Strategie ergibt, sondern aus der Leiden­schaft des Her­zens. Wer in die Lüge verliebt ist, ist kein Lügner. Er ist ein Schwindler.

Seinen Eigensinn hat Jean Cocteau zur Legende gemacht. Der Regisseur, Maler und Schriftsteller hat ihn einmal schillernd beschrieben: »Ich habe die Mythologie stets der Geschichte vorgezogen, weil die Geschichte aus Wahrheiten gemacht ist, die mit der Zeit zu Lügen werden, während die Mythologie aus Lügen gemacht ist, die mit der Zeit zu Wahrheiten werden.« Dieser Satz und das Leben, das ihn praktizierte, hat Cocteau die charmante Zuschreibung des Mythomanen eingebracht. Denn mythomanisch soll Cocteau gewesen sein: in die Lüge verliebt. Und genauso ist es seine literarische Fantasie Thomas in Thomas der Schwindler. Verliebt sind sie beide in die Lüge. So emphatisch, dass sie verwechseln und verwechseln wollen, was wir gemeinhin in Fantasie und Realität unterscheiden. Die geschichtliche Realität, die Cocteau in seinem Satz nonchalant aushebelt, will die Welt in ein Periodensystem schnüren. Der Mythos, den Cocteau ihr vorzieht, erzählt sich gemeinsam mit ihrer Lüge. Auf eine Wahrheit kann man hoffen. Die Wahrheit ist immer im Kommen.
In keinem seiner 75 Lebensjahre geht Cocteau einer geregelten Arbeit nach. Er ist ein Künstler, er kann es sich leisten. Das Geld seines Großvaters genügt mehreren Generationen, um in kaum vorstellbaren Reichtum zu leben. Im Fin de Siècle kehrt sich der Aspirant von den lebensweltlichen Härten ab, lebt in der aristokratischen Welt, die Marcel Proust 5000-seitig aufgefaltet hat. Von klein auf geht Cocteau in der Salonkultur eben jener Frauen ein und aus, die später in Prousts ermüdenden Beschreibungszwang literarische Gestalt erhalten. Proust bittet ihn, ein Exemplar seines Romans zu ihnen zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie es läsen. In einem Interview mit der Paris Review im Jahr 1964 fabuliert Cocteau von diesem aus unserer heutigen Position kaum zu fassendem Gespräch. Er, Cocteau, habe Proust gesagt, dass dieses Unterfangen verrückt sei. Als würde man eine Ameise davon überzeugen können, Jean-Henri Fabre zu lesen. Ein Insekt liest nicht den Insektenforscher.
Cocteau verkehrt mit Satie, Strawinsky und Apollinaire. Lenin trifft er zufällig an einem Nachmittag in einem der Salons. Mit Picasso führt er im Pariser Théâtre du Châtelet die Parade auf, ein avantgardistisches Ballett. Die beiden sind eng befreundet. Spricht Cocteau über Picasso, schimmert eine diamantene Sprache. Eine Sprache, die in schlichter Klarheit die Tiefe der Angelegenheiten erahnen lässt.

»He has no theory. He cannot have, because the creation ends at his wrists. Here. (Cocteau touches two beautiful, thin, coupled wrists, quite different from the costaud wrists of Picasso.) […]An essential problem is that one cannot know, questions of formulation and art are too complicated for it to be possible for one to foresee, and one simply does not know. Perhaps for this reason Picasso says of painting that it is the art of the blind.«

Während eines gemeinsamen Aufenthalts in einem Sommerhaus an der Atlantikküste mit seinem Zögling und Geliebten Radiguet, der anschließend an Typhus sterben wird, schreibt Cocteau 1923 Thomas der Schwindler. Cocteau veröffentlicht seine Schwindlergeschichte und gibt sich seiner Opiumsucht hin. »Wenn ich mich nicht tot stelle, bin ich verloren«, heißt es in seinem Buch. Auch wenn die Figur Thomas nicht erfunden ist – Cocteau hatte diese Geschichte zuvor für eine Zeitung rekonstruiert, die zum Vorbild für seinen Roman wurde – und auch wenn die Erfahrung an der Front des Ersten Weltkrieges auf einem wahren Frontbesuch des Dandys basiert: alles in dieser Geschichte wehrt sie sich gegen die Realität. So als müsste man schwindeln, um ihr auszuweichen.

»Es gibt Leute, die alles besitzen und es niemandem glaubhaft machen können, Reiche, die so arm, und Adlige, die so gewöhnlich sind, dass die Ungläubigkeit, die sie hervorrufen, sie am Ende schüchtern wirken lässt. An manchen Frauen werden die schönsten Perlen unecht. Desgleichen gibt es Männer, die blindes Vertrauen erwecken und Privilegien genießen, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Zu dieser glücklichen Gattung gehörte Guillaume Thomas.« (55)

Thomas ist ein 16-jähriger verwaister Nobody, der sich mit diesen Eigenschaften nicht zufrieden gibt. Er entschließt sich daher, sich einfach für älter zu erklären und spielt mit seinem Namen. Er assoziiert sich mit einem berühmten General Fontenoy. Thomas beherrscht dieses Spiel, und das Chaos des ersten Weltkrieges verzieht die Kontrollmechanismen. Es fällt nicht auf, dass dieser Guillaume Thomas Fontenoy, wie er sich von nun an nennt, nicht ein echter Neffe Fontenoys ist. Und es bleibt ebenso unbemerkt, dass er selbst nicht der hochdekorierte General ist, als der er durch die Straßen flaniert und in seiner Uniform die huldigenden Blicke auf sich zieht. Er gelangt in die Kreise einer Prinzessin und gewinnt ihr Vertrauen. Ihre Tochter verliebt sich in ihn. Er spielt mit ihrer Gunst, ohne sie zu erwidern. Er begibt sich an die Front, treibt sein Schauspiel auf die Spitze. Die rauen Militärs vertrauen den Abzeichen seiner Uniform mehr als ihren Instinkten. Guillaume Thomas ist ganz oben angekommen, weil er es behauptet. Er kann nur an sich selbst scheitern.
An der Front geht er einen Schritt zu weit. Nicht, dass man ihn entlarvte. Er selbst hatte vergessen, dass er ein Schauspiel spielt. In einem nächtlichen Ausflug an die deutsche Verteidigungslinie genießt er sich zu sehr, ist fahrlässig. Als er entdeckt wird, noch eine letzte Albernheit (er ruft Guillaume II, das französische Äquivalent des deutschen Kaisers Wilhelm II). »Dann spürte er einen fürchterlichen Stockschlag gegen die Brust. Er fiel. Er wurde taub, blind. ›Eine Kugel‹, sagte er sich. ›Wenn ich mich nicht tot stelle, bin ich verloren.‹ [...] Guillaume Thomas war tot.« Er stirbt einen vermeidbaren Tod. Immerhin ist er tot.

»Es kommt sogar vor, dass der Tod ein Zeugnis über gutes Leben und Sittlichkeit ausstellt. Nun, so denkt man wider Willen, dieser Mann ist gerade gestorben. Er ist immerhin tot. Also war er wohl nicht irgendwer. Er war vielleicht besser, als es den Anschein hatte. An der Front war es, als ließen die Häufigkeit des Todes, die unablässigen Verwundungen und Gefahren jeden Menschen mehrmals sterben, der Tod wurde zu Kleingeld und verlor seine Bedeutung. Der Wechselkurs war auf dem Tiefstand.« (139)

Der Schwindler ist einmal als Phantast, als Schwärmer vorgestellt worden. Diese etymologische Tatsache sollten wir erinnern. Der Schwindler ist derjenige, der eine phantastische Vorstellung überernst nimmt, der mit einer Flause Geschichte machen will und es auch kann. Ein Lügner lügt planvoll; der Schwindler schwindelt von ganzem Herzen. Deswegen verwechselt er die Wirklichkeit mit seinem Phantasma, deswegen vertraut er seiner eigenen Narration und bewegt sich darin mit somnambuler Sicherheit. Nicht aus der Notwendigkeit, die sich aus der Strategie ergibt, sondern aus der Leidenschaft des Herzens. Guillaume Thomas entschließt sich im Anfang zwar zu einer Lüge, um seinem Schicksal zu trotzen. Bald darauf beginnt er aber zu schwindeln. Wer in die Lüge verliebt ist, ist kein Lügner. Er ist ein Schwindler.
Thomas der Schwindler. Sein vorläufiges Scheitern, das man in seinem Tod erkennen möchte, bedeutet wenig. Cocteau behält sich eine Schlusspointe, die sein Tod zu keinem Scheitern der Schwindlergeschichte macht, sondern zu ihrer Vervollkommnung. Der Schlüssel zur Pointe und damit zur Geschichte selbst ist ein Grabstein. An unser aller Lebensende steht mit Glück ein Grabstein. Auf diesem Grabstein wird unser Name stehen, unsere Jahreszahlen, vielleicht sogar ein Spruch, ein in Stein gemeißelter Segen, ein letzter Satz für ein Leben, das es nicht mehr gibt. Mit Glück wird uns in diesem Namen erinnert, und die Geschichten, die über uns erzählt werden, finden in diesem Namen ihre Heimatstätte. Auf dem Grabstein des Schwindlers ist Lüge zur Wahrheit geworden.

»G.-T. Fontenoy. / Für uns gestorben.«

Text: Jean Cocteau, Thomas der Schwindler (Manesse 2018)

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