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#31: Alejandro Zambra

#31 ALEJANDRO ZAMBRA: BONSAI

von Konstantin Schönfelder

Das Problem, das Julio und Emilia haben, wenn sie sich die Zigarette im Bett anzünden, nachdem sie sich geliebt haben und zuvor über Proust gelogen, ist, dass ihr Ver­liebt­sein niemals in der Liebe einrastet.

Dieses Buch verbirgt seinen Charakter. Roman steht auf seinem Cover direkt unter dem Titel in geschwungenen Buchstaben. Diese großzügig gesetzten neunzig Seiten sind ein Roman? Ironische Selbstbeschreibung, gerade mit Blick auf die Blickrichtung des »Romans«, die immer wieder ins französische Herz der Literatur weist, also zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dieses, ein 5000-seitiges, weitschweifendes und weltschleifendes Buch; hier ein chilenischer Meister der Verknappung, der versteht, eine Liebesgeschichte auf ein paar wenige Szenen und damit auf dieses Büchlein zu verdichten. Die Verbindung zwischen beiden ist der Schwindel der Protagonisten in Bonsai. Julio und Emilia gestehen sich in einem romantischen Moment ihre Liebe mit Proust, ohne eine Seite von ihm gelesen zu haben. Ist einmal eine Lüge in der Welt, müssen wir mit ihr leben; besonders dann, wenn man die Recherche – der französische Kurztitel zu Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, also der Bonsai unter den Recherches – gemeinsam liest und damit in ständiger Gefahr, aufzufliegen.

»Sie mussten so tun, als wäre die gemeinsame Lektüre nur ein lang ersehntes Wiederlesen, so dass sie, wenn sie zu den zahlreichen Passagen kamen, die besonders denkwürdig erschienen, den Tonfall änderten oder einander anblickten, Ergriffenheit forderten und größte Vertrautheit vortäuschten. Julio wagte sogar einmal die Bemerkung, er habe jetzt erst das Gefühl, Proust wirklich zu lesen, und Emilia antwortete mit einem zarten, untröstlichen Händedruck.« (35)

Das japanische Wort Bonsai ist die Verbindung zweier Elemente. Einer Schale, bon, und der Pflanze, sai. »Bonsaibäume« gibt es also nicht, es gibt nur »Bonsais«, denn im Bonsai ist ja schon der Baum benannt, der Baum in der Schale. Die Philosophie, die sich aus der Figur des Bonsais erschließen lässt, verbindet das, was in der Philosophiegeschichte als die erste und die zweite Natur des Menschen auftaucht. Die erste Natur: Das ist der Baum. Er wächst, ohne, dass es einen Menschen braucht. Aber ein Baum ist noch kein Bonsai – und deshalb die zweite Natur: das ist die Schale. Die artifizielle Umgebung, ein schöner zur Schale geschliffener Felsblock zum Beispiel. Das bemerkenswerte, spannungsvolle Verhältnis von Natur und Kultur drückt sich in dieser botanischen Miniatur aus.
Nun lädt dieses harmonische Bild zur Suche nach Dissonanzen ein. Julio liefert uns eine Anekdote. Bonsai, das ist der Titel eines Romans, den er für einen Schriftsteller mit dem geheimnisvollen Namen Gazmuri abzutippen vorgibt. Da Julio »dem Romancier« aber nicht wirklich assistiert und aber einer Freundin erzählen muss, was darin geschieht, denkt er sich kurzerhand eine Geschichte aus, die er Bonsai nennt. Und diese ausgedachte Geschichte ist der Anker für seine eigene Geschichte. In der kommt überall Emilia vor. Emilia ist Julios große Liebe.

»Als Julio sich in Emilia verliebte, wurde jede Freude, jedes Leid der Freude und dem Leid, das ihm Emilia bescherte, zu einem bloßen Abklatsch der wahren Freude, des wahren Leids.« (20)

Das Problem, das Julio und Emilia haben, wenn sie sich die Zigarette im Bett anzünden, nachdem sie sich geliebt haben – und zuvor über Proust gelogen –, ist, dass ihr Verliebtsein niemals in der Liebe einrastet. Sie verausgaben sich und erschöpfen sich deshalb sehr schnell. Aber für eine Geschichte ist das natürlich kein Problem. Im Gegenteil, es ist ein großes Glück. Zunehmend verfilzen im Verlauf der Erzählung die Unterschiede von Fiktion und Wirklichkeit, zwischen dem, was Julio schreiben soll oder schreibt, und dem, was tatsächlich geschieht.

»Einen Bonsai ziehen ist wie schreiben, denkt Julio. Schreiben ist wie das Ziehen eines Bonsais, denkt Julio.« (82)

Manche Bücher gewinnen ihre Suggestion daraus, dass man sie nicht gelesen hat. Die eingangs zitierte Recherche von Marcel Proust ist wahrscheinlich das Buch, mit dem man eine solche Reihe begänne. Wenige haben diese niemals enden wollenden sieben (in der noch geradeso erschwinglichen broschierten Frankfurter Ausgabe) in majestätisch-rotes Leinen gebundenen Teile der Recherche wirklich gelesen, und wer sie gelesen hat, hat sie noch nicht studiert, und wer sie dann studiert, hat noch nicht verstanden. In diesem Duktus der Demut spreche ich über dieses Buch. Das ist keine Schatzkiste, in die ich einfach hineingreifen darf, wenn mir danach ist und deren Reichtümer sich außerhalb davon selbst erklären. Ich muss mir zuerst mühevoll einen Zugang erarbeiten, der es mir erlaubt, daraus zu zitieren und darüber sinnvoll zu sprechen. Mir riet einmal ein Professor der Philosophie, in Momenten des Zweifels, wenn mal wieder ein Abendessen hunderte Seiten andauert: »einfach blättern, man kann ja blättern«. Und so blätterte ich mich mehr durch die Recherche als sie wahrscheinlich gelesen zu haben. Und für alle, denen das unerklärlich ist, sind es immer noch 5000 Seiten.
Das Gegenstück im besten Sinne ist Bonsai. Hier gilt die Ausrede nicht, dass das Buch zu lang sei oder zu hinweisvoll. Zambra zeigt, wie man mit stilistischem und narrativen Spartanismus eine ästhetische Kraft entwickelt. Diese Simplizität ist auch der Grund, warum das Buch offen ist für verschiedene Leser. Es ist kein intellektuelles Buch, an dem aber doch Menschen wie Julio, die wie Intellektuelle sein wollen, ihre Freude haben. Es ist keine schwärmerische Liebesgeschichte, durch die alle Schwärmerinnen aber für ihr Schwärmen ein literarisches Vorbild finden. Es ist auch keine botanische Fiktion und doch bin ich sicher, ist jeder Botaniker angetan, wie beiläufig Zambra die philosophische Kraft eines Bonsais entfaltet. Alle reden nur noch von Zambra, schrieb James Wood in einer Kritik im New Yorker.

Und wie manche eine dieser guten ecuadorianischen Bitterschokoladen verschenken, die sie von einer Reise mitbrachten, verschenke ich Alejandro Zambras Bonsai, der sechs Mal in meinem Bücherregal steht, und dann sprechen wir über Liebe und Lüge und dass sie ineinander verschlungen sind. Sprechen wir über Bonsai.

Text: Alejandro Zambra, Bonsai (Suhrkamp 2015)

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#31 Alejandro Zambra: Bonsai

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