von Esther Kinsky inszeniert von PRÄ|POSITION

Gołdap–Glasgow
Zwiestimmige Reise

Wo be­gin­nen die Rei­sen? In ei­nem Bild, ei­nem Wort, ei­nem Ton, der auf Gren­ze ver­weist, auf ein Da­hin­ter, Da­rüber­hinaus. Die Rei­se nach Gołdap be­gann in den neun­zi­ger Jah­ren in Glas­gow, auf dem Fried­hof Lamb­hill, da­mals am Stadt­rand, mit Blick auf die grün­en Campsie Fells, unter at­lan­ti­schem Him­mel mit lila Wol­ken, an ei­nem klei­nen Grab an der Fried­hofs­mauer, dem Grab einer Frau ge­boren in Gołdap, Magd in Grund­ischken, ge­stor­ben bei Grasmere, be­grab­en in Glas­gow. Jah­re nach dem Fried­hofs­be­such ma­chen wir uns von Berlin aus auf, ihre Spur­en zu such­en, und an die­sem Regen­tag Mitte Au­gust fahre ich zum er­st­en Mal mit dem Auto über die Gren­ze von Deut­schland nach Polen. Wir über­que­ren die Oder bei Küstrin/­Kostrzyn, mit Blick auf die War­the­mün­dung und das Laby­rinth der Fes­tung. Meine Ost-­West­erfah­rung war an Züge ge­bund­en, an die schlei­chen­den Nacht­züge der acht­ziger Jah­re von Ber­lin nach War­schau und Moskau, mit Kurs­wa­gen Kiew, von Wien nach Kra­kau, Wien nach Buda­pest, Zagreb. Bel­grad, Sofia. Die Fahr­ten nach Po­len stets ver­bun­den mit Mor­gen­däm­mer über den Oder­auen, Rau­reif, röt­lich­em Son­nen­auf­gangs­licht, Niesel­regen auf den schüt­teren Kie­fern­wald von Rzepin, das für mich lan­ge ein Phan­tom­ort blieb, vom Zug aus sah man da­mals nichts als Grenz­ler­bar­acken, Fel­der, Wald, in dem sich un­be­fest­igte We­ge ver­lo­ren.

Heu­te soll Rzepin ein auf­stre­ben­der Ort mit Ei­gen­heim­sied­lun­gen sein, für Pend­ler über die Gren­ze, und von der Eu­ro­pa­brü­cke über die Oder sieht man das Haus, in dem Hein­rich von Kleist als Kind zu­min­dest zeit­wei­se leb­te, leuch­tend weiß hin­ter der Ufer­mau­er. Die gan­ze an Zü­ge und Glei­se ge­bun­de­ne Land­schaft nach Os­ten hat sich seit den An­fän­gen mei­ner Rei­sen in den acht­zi­ger Jah­ren ver­scho­ben, ist ge­kippt, ver­zerrt, ver­la­gert, Stre­cken sind ab­ge­bro­chen und still­ge­legt, von Krie­gen zer­stört, von neu­en Gren­zen zer­schnit­ten, die blaue Gren­ze mit den gel­ben Ster­nen sperrt dich­ter ab, als es frü­her der »Ei­ser­ne Vor­hang« tat.
Nun al­so mit dem Au­to, in ei­ne Rich­tung, die noch Fremd­land ist. Ei­ne Rei­se nach Nord­os­ten, Ma­su­ren, dem sa­gen­haf­ten Seen­land, dem im­mer auch die­ses Echo »Ost­preu­ßen« nach­hallt, Rich­tung Kö­nigs­berg-Ka­li­nin­grad, je­den­falls bis an die Gren­ze des Ka­li­nin­gra­der oblast’, nicht ganz bis an die Me­mel, nicht bis in Bo­brows­kis Land, aber doch bei­nah. In ein Wald-, Was­ser-, Vo­gel­land, ei­ner Ge­schich­te auf der Spur, die die Gro­ße Ge­schich­te im­mer wei­ter nach Wes­ten ge­spült hat­te, in die Frem­de.

Ich kann mich noch an die An­kunft mei­ner Groß­mut­ter in Glas­gow er­in­nern. Sie kam mit dem Zug, es muss Spät­som­mer ge­we­sen sein, ich soll­te bald in die Schu­le kom­men, mei­ne Mut­ter ih­re Aus­bil­dung zur Grund­schul­leh­re­rin an­tre­ten. Wir war­te­ten lan­ge im Bahn­hof, an der Ab­sper­rung vor den Bahn­stei­gen, und mei­ne Mut­ter er­kann­te ih­re Mut­ter in der Men­ge erst nicht. Mei­ne Groß­mut­ter hat­te Deutsch­land, Ber­lin, ver­las­sen, um bei uns in der Ein­zim­mer­woh­nung mit Kü­che in Glas­gow zu woh­nen und sich um mich zu küm­mern, wäh­rend mei­ne Mut­ter aufs Kol­leg ging. Wir drei leb­ten in ei­nem ein­zi­gen Zim­mer, meis­tens noch mit ei­ner Kat­ze oder ei­nem Hund, wäh­rend mein Va­ter im Al­ko­ven in der Kü­che schlief. Ich weiß nicht, wie schwer oder leicht es mei­ner Groß­mut­ter ge­fal­len war, Ber­lin – an­fangs der fünf­zi­ger Jah­re noch ei­ne Trüm­mer­stadt – und ih­re Ver­wandt­schaft zu ver­las­sen. Ber­lin war je­den­falls ein Wort, das oft in den Ge­sprä­chen fiel, die sie abends lei­se auf deutsch mit mei­ner Mut­ter führ­te. Mei­ne Mut­ter hat­te das Re­den von Deutsch­land ver­mie­den, ganz sel­ten hat­te ich sie den Na­men ih­rer Hei­mat­stadt aus­spre­chen hö­ren: Böh­linn. Mei­ne Oma, wie ich sie mit eng­li­scher Aus­spra­che nann­te, sag­te es deutsch: Ber­lin. Bear­leen. Ein Bä­ren­ort, von dem ich im Ein­schla­fen wis­pern hör­te, der mich in mei­ne Träu­me ver­folg­te und zum Traum­ort wur­de, ein Traum- und Trüm­mer­ort, wo­bei mir Trüm­mer wie Ver­hei­ßung er­schie­nen. Oma und mei­ne Mut­ter sa­ßen im Kel­ler des Nach­bar­hau­ses, als ihr Haus den Bom­ben zum Op­fer fiel. Nach dem An­griff muss­te mei­ne Mut­ter in den Trüm­mern die Hand­ta­sche mei­ner Oma su­chen. Sie hat­te Angst und griff nur, was sie ge­ra­de zu fas­sen be­kam, nicht die Hand­ta­sche, son­dern ei­ne Schach­tel mit Weih­nachts­baum­schmuck.
Wir bei­de pass­ten gut zu­sam­men, mei­ne Groß­mut­ter und ich. Sie koch­te für mich, führ­te den Haus­halt, je­den Sams­tag fuh­ren wir nach­mit­tags in die Stadt, ich trug kur­ze Ho­sen und bei nas­sem Wet­ter ei­nen Re­gen­man­tel, mei­ne Groß­mut­ter trug ei­nen grü­nen Re­gen­man­tel, ei­nen brau­nen Hut mit Fe­der, di­cke Strümp­fe und Schu­he, die man heu­te wahr­schein­lich als be­que­me Tre­ter be­zeich­nen wür­de. In der Stadt mach­ten wir Be­sor­gun­gen, dann gin­gen wir in Wen­dy’s Tea Room, da­nach ins Kino, im­mer in ei­nes, wo man nur kurz oder gar nicht um Ein­tritts­kar­ten an­ste­hen muss­te. Wir gin­gen über­haupt oft ins Kino, in der Re­gel zu Ta­ges­zei­ten, wenn es kaum be­sucht war, die meis­ten an­de­ren Zu­schau­er wa­ren eher alt und schwer­hö­rig, und nie­mand hat­te et­was da­ge­gen, wenn ich mich auf mei­nem Sitz im Par­kett zu mei­ner Groß­mut­ter neig­te und sie flüs­ternd in mei­nen er­lern­ten deut­schen Bruch­stü­cken bei Di­a­lo­gen auf dem Lau­fen­den hielt. Wir sa­hen al­le Fil­me, die für Kin­der in Be­glei­tung ei­nes Er­wach­se­nen zu­ge­las­sen wa­ren. Kriegs­fil­me wie »Die letz­te Fahrt der Bis­marck« oder »Stahl­ba­jo­nett« und ein­mal, al­ler­dings abends und im voll­be­setz­ten Ki­no, »Der Letz­te Akt« von Pabst über Hit­lers letz­te Ta­ge im Bun­ker, auch auf Eng­lisch na­tür­lich und un­ter dem Ti­tel »Ten Days to Die«. Der Film von Pabst kam zum zehn­ten Jah­res­tag des En­des des Zwei­ten Welt­kriegs in die Ki­nos. In den Schul­fe­ri­en und sonn­tags, wenn mei­ne Mut­ter lern­te oder spä­ter ih­ren Un­ter­richt vor­be­rei­ten muss­te, wa­ren mei­ne Groß­mut­ter und ich un­zer­trenn­lich, wir mach­ten Spa­zier­gän­ge, manch­mal sehr lan­ge, die Bears­den Road hin­auf, oder am Bou­le­vard ent­lang. Ei­nes Ta­ges, stell­ten wir uns vor, wür­den wir ganz ans En­de des Bou­le­vards ge­lan­gen, wo die Old Kilk­patrick Hills, die wir aus un­se­rem Fens­ter im vier­ten Stock sa­hen, zum Fluss hin aus­lie­fen. Das war un­ser En­de des Re­gen­bo­gens, das wir aller­dings nie er­reich­ten, je­den­falls nicht zu Fuß.

Hin­ter Küstrin tut sich ein Mär­chen­land aus Was­ser, Wald und Sumpf auf, ein sich selbst über­las­se­nes Wu­cher- und Ver­falls­ge­län­de un­ter Na­tur­schutz, die über al­len Gren­zen schwe­ben­de Vo­gel­re­pub­lik um die zer­fa­sern­de War­the vor der Mün­dung in die Oder, kreuz und quer ste­hen­des, ge­stürz­tes, halb ver­sun­ke­nes Ge­hölz auf mo­ras­ti­gem Bo­den, durch­zo­gen von Ge­wäs­sern, vi­brie­rend vom Gur­ren, Ga­ckern, Glu­ckern aus den Keh­len der im Ge­hölz ver­bor­ge­nen Vö­gel. Lei­ser Re­gen fällt auf die düs­ter-­sil­bri­ge Land­schaft der Ver­wand­lung, der schie­fen Stäm­me, der mo­dern­den Rück­stän­de der Jah­res­zei­ten, un­weg­sam und un­be­re­chen­bar, träu­mend von der gro­ßen Glit­zer­me­ta­mor­pho­se des Frosts.
Hin­ter dem Mär­chen­land liegt Gor­zów Wielko­polski wie ein Wi­der­wort auf das un­ste­te, wäss­ri­ge Mün­dungs­land. Gor­zów Wielko­polski hieß frü­her Lands­berg, die Stadt aus Chris­ta Wolfs Kind­heits­mus­ter, Ge­burts­stadt von Victor Klem­perer, M. ist da­ran ge­le­gen, die Stadt zu se­hen, ei­nen Schnip­sel Licht und Aus­blick von hier mit­zu­neh­men, nach Jah­ren mit Klem­pe­rers Ta­ge­bü­chern. Ge­stör­tes Ge­län­de über­bau­ter Spu­ren, von dem eins­ti­gen Ort ist kaum noch et­was er­hal­ten. Die Stadt­mit­te liegt un­ter der Last ei­nes klot­zi­gen Ein­kaufs­zen­trums, ge­lang­weil­te Müt­ter mit klei­nen Kin­dern strei­fen an den Ge­schäf­ten mit Bil­lig­wa­ren vor­bei, kau­fen Sü­ßig­kei­ten und Eis. Wir flie­hen den Re­gen und sit­zen in ei­nem Ca­fé im Ein­kaufs­zen­trum, zwi­schen wack­li­gem In­ven­tar, das auf ei­nen Film über ei­ne west­deut­sche Pro­vinz­stadt in den 80er Jah­ren war­tet, nach dem Kaf­fee ge­hen wir zum Fluss, auf und ab an ei­ner öden Pro­me­na­de, die kaum mehr Neu­gier auf die Stadt weckt als das Ein­kaufs­zen­trum. Ei­ner von un­zäh­li­gen Or­ten Mit­tel­eu­ro­pas, des­sen Trost­lo­sig­keit aus der Un­tröst­lich­keit er­wach­sen ist, aus Zer­stö­rung, Ver­schie­bung, Spu­ren­til­gung sei­ne Zei­chen­spra­che der kan­ti­gen, bors­ti­gen Rat­lo­sig­keit ent­wi­ckelt hat.

Wir fah­ren wei­ter, der Re­gen wird stär­ker, die Fern­stra­ße bebt un­ter den Last­wa­gen. Ich ha­be mich im­mer auf der Hö­he Poz­nan-­War­schau be­wegt, mit Ab­ste­chern nach Wroc­law und ein­mal der Weich­sel ent­lang zur Ost­see und ha­be nichts von den end­lo­sen Wäl­dern ge­wusst, die wir durch­que­ren. Die Wäl­der sind in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den von schnur­ge­ra­den We­gen durch­schnit­ten, an den Ein­mün­dun­gen der Wald­we­ge ste­hen Pilz­samm­ler un­ter gro­ßen schwar­zen Schir­men, die Kör­be voll mit Pil­zen auf klei­nen Klapp­ti­schen aus­ge­stellt, und Mäd­chen auf Freier­su­che, un­ter löch­ri­gen Schir­men bib­bernd in Mi­ni­rö­cken und hoch­ha­cki­gen Schu­hen, die halb in den Wald­schlamm ver­sin­ken. Die Schmin­ke leuch­tet. Im­mer im Wech­sel, Pilz­samm­ler und Mäd­chen, als hät­ten sie sich die Re­vie­re auf­ge­teilt. Wie vie­le hun­dert Ki­lo­me­ter lang wä­re ei­ne Stra­ße aus all den ost­eu­ro­pä­ischen Stre­cken mit ähn­li­chen Sze­nen, Mäd­chen am Wald­rand, an Park­plät­zen, grell auf­ge­macht, das äu­ßers­te Pre­ka­ri­at.
Am Abend kom­men wir in Torun an, frü­her Thorn. Thor­ner Kath­rin­chen hie­ßen für mei­ne Groß­mut­ter die win­ter­li­chen Leb­ku­chen. Die Son­ne kommt her­vor und scheint auf die Weich­sel, breit, und hoch und schnell, Ang­ler sit­zen am Ufer vor der Stadt und star­ren ins Was­ser.

Mei­ne Groß­mut­ter war in Gołdap ge­bür­tig, ein Orts­na­me, der nicht so oft fiel, wie Ber­lin, aber sich mir doch ein­präg­te. Sie war Magd in ei­nem klei­nen Wei­ler bei An­ger­burg, als sie schwan­ger wur­de, muss­te sie die Ar­beits­stel­le ver­las­sen, sie hei­ra­te­te den Kinds­va­ter, ei­nen Ta­ge­löh­ner na­mens Hein­rich, und zog mit ihm nach An­ger­burg, wo mei­ne Mut­ter ge­bo­ren wur­de. Ar­beit war knapp, wie un­zäh­li­ge an­de­re gin­gen sie nach Wes­ten, was hieß: Ber­lin. Mei­ne Groß­mut­ter wur­de Haus­meis­te­rin in ei­nem Haus an der Kant­stra­ße in Char­lot­ten­burg, das im Krieg zer­stört wur­de. Der Groß­va­ter ver­schwand im Krieg, nicht ge­fal­len, nicht ver­schol­len, auf sei­ne Art »im Os­ten ge­blie­ben«, bei ei­ner neu­en Frau, mit ei­ner neu­en Fa­mi­lie. Sein Na­me fiel nie. Al­les, was vom Krieg han­del­te, ver­stand ich bald auf deutsch und sah viel­leicht auch den Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Krieg und der Not und der Fin­dig­keit mei­ner Groß­mut­ter bei der Be­wäl­ti­gung des All­tags­le­bens in einer Miets­haus­ge­gend in Glas­gow, ob­wohl sie des Eng­li­schen ganz un­kun­dig war, von der Glas­go­wer Mund­art ganz zu schwei­gen. Wenn sie zu Be­sor­gun­gen und Ein­käu­fen hin­aus­ging, hielt sie stets Aus­schau nach Din­gen, die wir mit­neh­men konn­ten, ei­nem Schnäpp­chen, weg­ge­wor­fe­nen oder auf­ge­ge­be­nen Ge­gen­stän­den am Stra­ßen­rand, die sich noch als nütz­lich er­wei­sen konn­ten. In Si­biu in Ru­mä­ni­en muss­te ich an sie den­ken, wo da­mals, in den Neun­zi­gern, je­der Be­woh­ner mit ei­nem lee­ren Beu­tel, ei­ner Ta­sche, ei­nem Korb un­ter­wegs zu sein schien, nicht um ein­zu­kau­fen, nur auf Aus­schau nach Nütz­li­chem, nach Din­gen, die sich ein­mal als nütz­lich er­wei­sen könn­ten, und sei es nur zum Tausch. Sie ver­stand es, nur mit Ges­ten ge­brauch­te Haus­halts­ge­gen­stän­de zu er­ste­hen oder zu be­schaf­fen, et­wa ei­ne Zink­ba­de­wan­ne, die ich als Sechs­jäh­ri­ger mit ihr zu­sam­men in un­se­re ba­de­zim­mer­lo­se Woh­nung im zwei­ten Stock tra­gen muss­te. Manch­mal über­kam sie ei­ne Sehn­sucht nach ver­trau­ten Spei­sen, und wir gin­gen zu Paul­sen’s Po­lish De­li­ca­tes­sen in der St George’s Rd, mei­ne Groß­mut­ter sprach an­ders dort als mit mei­ner Mut­ter, Bro­cken Pol­nisch, wie ich heu­te an­neh­me, und kauf­te den schwe­ren, fes­ten pol­ni­schen Kä­se­ku­chen, den ich nicht moch­te, Pum­per­ni­ckel und He­ring. Viel spä­ter ha­be ich mich ge­fragt, wo mei­ne Groß­mut­ter in Ber­lin wohl po­li­tisch ge­stan­den hat­te. Mei­ne Mut­ter sprach nie da­von. Zu Weih­nach­ten schmück­ten wir den Baum mit den Ku­geln und An­hän­gern, die mei­ne Mut­ter nach dem An­griff aus den Trüm­mern ge­zo­gen hat­te. Nur mei­ne Groß­mut­ter durf­te den letz­ten Schmuck an­brin­gen, eine matt­ro­te Ku­gel mit glitzern­den Krus­ten­kranz. Der Kranz leuch­te­te wie Eis oder Rau­reif. Die Ku­gel war noch aus Gołdap.

Die holp­ri­ge Stra­ße nach Nord­os­ten, voll mit drän­geln­den Last­wa­gen im Wett­be­werb der Über­hol­ma­nö­ver, hat eine häss­li­che Ge­schich­te als Reichs­stra­ße 1, die von Aa­chen bis Kö­nigs­berg führ­te. Da­rü­ber wird sich kaum ei­ner der Lkw-Fah­rer Ge­dan­ken ma­chen, sie kon­su­mie­ren Ki­lo­me­ter zwi­schen der rus­si­schen Gren­ze und Zie­len im Wes­ten und ha­ben wahr­schein­lich – je­der für sich – ih­re ei­ge­nen klei­nen Wahr­zei­chen, die ih­nen Ent­fer­nun­gen mar­kie­ren. Beim Über­que­ren der Weich­sel ein Blick nach Nor­den, wo der Him­mel kurz hell und weit ist, weiß be­tupf­ter Ka­schu­ben- und Ost­see­him­mel. Die Weich­sel ist ei­ner der gro­ßen Trenn- und Tei­lungs­flüs­se Eu­ro­pas, wie Do­nau, Tisza, Bo­brows­kis Me­mel. Die Vö­gel sin­gen un­ter­schied­lich zu bei­den Sei­ten die­ser Flüs­se, die Blick­rich­tun­gen sind an­de­re. Nach Os­ten, nach Wes­ten, den Fluss im Rü­cken, zwei ver­schie­de­ne Ho­ri­zon­te. Jen­seits der Weich­sel än­dert sich das Licht, mei­ne ich zu se­hen, die Stim­mung, man darf kei­nen Blick zu­rück­wer­fen, nach Wes­ten, stel­le ich mir vor, ein Or­pheus­weg. Knor­ri­ge Bäu­me bil­den lan­ge Al­leen und nei­gen sich da­rü­ber zum Som­mer­tun­nel. Die Al­leen sind holp­rig und schmal, schwe­re Mo­tor­rä­der ma­chen den Ge­gen­ver­kehr aus und zwin­gen in ei­ne Rei­he mit den wack­li­gen Rad­ler­grup­pen, Rent­ner im Som­mer­fri­schler­look, die ers­ten deut­schen Hei­mat­su­cher, je wei­ter nach Os­ten man kommt, des­to häu­fi­ger sieht man sie. Die Land­schaft ist lieb­lich-­düs­ter, die Ort­schaf­ten ab­wei­send, zer­fal­le­ne Gü­ter aus ro­tem Back­stein, lang­ge­streck­te Rei­hen­häu­ser aus Fer­tig­bau­tei­len, die has­ti­gen Heim­stät­ten der Nach­kriegs­zeit für die bei Nacht und Ne­bel her­bei­ge­brach­ten Men­schen von jen­seits der heu­ti­gen Ost­gren­ze. Da­zwi­schen die ris­si­gen Be­ton­plat­ten­we­ge des länd­li­chen Ost­eu­ro­pas, so selt­sam ver­schwis­tert den has­tig an­ge­leg­ten Roll­fel­dern aus dem Zwei­ten Welt­krieg in Ost­eng­land. Gras und Kraut quillt aus den Rit­zen, Kamil­le, küm­mer­li­cher Mohn, Lö­wen­zahn.

In Węgorzewo su­chen wir lan­ge nach ei­ner Un­ter­kunft. Ein lan­ges Wo­chen­en­de um den ka­tho­li­schen 15. Au­gust steht be­vor, je­de halb­wegs freund­lich wir­ken­de Un­ter­kunft für Selbst­ver­sor­ger ist aus­ge­bucht, Kin­der spie­len und Wod­ka­fla­schen klir­ren, so­gar bat­te­rie­be­trie­be­ne Gir­lan­den aus bun­ten Par­ty­leuch­ten ha­ben die Aus­flüg­ler mit­ge­bracht und hän­gen sie zwi­schen den Ap­fel­bäu­men auf, die noch vom letz­ten Re­gen trie­fen.

Wir fin­den ein Ob­dach, als es schon däm­mert, ein gan­zes Haus, die Gäs­te, die sich an­ge­kün­digt hat­ten, sind aus­ge­blie­ben. Die Be­sitze­rin er­zählt, dass sie in Frank­reich ge­bo­ren ist. Ihr Va­ter war Berg­mann. Kum­pel, sagt sie auf deutsch. Als woll­te sie ih­re Ge­schich­te be­wei­sen, singt sie un­ver­mit­telt ein fran­zö­si­sches Kin­der­lied. Das Som­mer­frisch­ler­haus soll­te für ih­re Toch­ter sein, aber die ist jetzt im Wes­ten ver­hei­ra­tet. In Bel­gi­en. Das Haus ist »poniemiecki« - nach­deutsch, von den Deut­schen hin­ter­las­sen, ein nur va­ge über­setz­ba­res Wort, das un­wei­ger­lich ei­ne län­ge­re Ge­schich­te birgt. Dem Aus­se­hen nach zu ur­tei­len ein has­tig und schlecht ge­bau­tes Haus aus den frü­hen Kriegs­jah­ren, oder den spä­ten drei­ßi­ger Jah­ren, als es für Deut­sche An­rei­ze und Geld­lei­hen gab, die sie zum Sie­deln im Os­ten rei­zen soll­ten, die Uto­pie war deut­sche Über­zahl, Deut­sche über­all. Die Frau und ihr schwer­hö­ri­ger Mann le­ben in ei­nem neu­e­ren ein­stö­cki­gen Haus, dem die Schwei­ne­stäl­le wei­chen muss­ten. Das neue Haus sieht deut­scher aus als das nach­deut­sche. Zwi­schen zwei blau­grü­nen Thuja­bäu­men steht ein Gar­ten­zwerg mit Schub­kar­re, wie ver­irrt. Mit der Zeit ent­de­cken wir wei­te­re Gar­ten­zwer­ge. Die Toch­ter bringt sie mit, wenn sie auf Be­such kommt, er­klärt die Frau. Sie weiß da ein bil­li­ges Ge­schäft, un­ter­wegs ir­gend­wo.
Die Dun­kel­heit ist vol­ler Un­ru­he, die Luft er­füllt von den Ge­räu­schen der Nacht- und Was­ser­vö­gel, bel­len­den Füch­sen, den kur­zen heu­len­den Kla­ge­stö­ßen ei­nes un­be­kann­ten Tiers. Das Haus ist feucht, eine klam­me, über die Jah­re an­ge­stau­te Käl­te, die in je­de Fa­ser kriecht.

Auf un­se­ren Spa­zier­gän­gen er­zähl­te mei­ne Groß­mut­ter manch­mal. Nicht viel, sie war ei­ne wort­kar­ge Frau, ich weiß nicht, ob sie sich frag­te, wie­viel ich ver­stand. Sie bück­te sich nach Blu­men und Pflan­zen, pflück­te sie, man­che sam­melte sie in ih­rem Beu­tel, sie nann­te mir die Na­men, vor al­lem sam­mel­te sie gern Ka­mille.
Hin­ter dem Zie­gel­bau ei­ner Fab­rik an der Bearsden Road stan­den ein paar Fer­tig­häu­ser, die wäh­rend des Krie­ges oder un­mit­tel­bar da­nach er­rich­tet wor­den wa­ren.Die Fer­tig­häu­ser la­gen et­was ab­seits der Stra­ße, von die­ser durch den Geh­steig, ei­nen brei­ten Gras­strei­fen und ei­ne weiß­lich­graue, be­to­nier­te Zu­fahrt ge­trennt. In den Ris­sen im Be­ton und den Rit­zen zwi­schen Bord­stein und Fahr­bahn spross Ka­mille in di­cken, zä­hen Bü­scheln. Meis­tens pflück­ten wir die Ka­mille auf dem Rück­weg vom Ode­on-­Kino in Annies­land. Ka­mille blüht im Ju­ni und Ju­li, in den Som­mer­fe­ri­en al­so, in de­nen wir min­des­tens zwei­mal in der Wo­che in die Nach­mit­tags­vor­stel­lung ins Ode­on gin­gen, des­halb er­in­ne­re ich mich wahr­schein­lich so gut ans Pflü­cken der Ka­mil­le. Und si­cher er­in­ne­re ich mich auch des­halb, weil ich nichts mit dem Ab­rup­fen von Blu­men am Stra­ßen­rand zu tun ha­ben woll­te. Be­stimmt war es mir pein­lich, in Be­glei­tung ei­ner er­wach­se­nen Frau zu sein, die sich ein­fach so auf der Stra­ße nach et­was bück­te, wo­bei man von Nach­barn be­obach­tet wer­den konn­te, oder gar von Schul­ka­me­ra­den. Am Tag der Ka­mil­len­ern­te oder ei­nen Tag spä­ter war die Kü­che er­füllt von dem süß­li­chen und für mich übel­keits­er­re­gen­den Ge­ruch des Ka­mil­len­auf­gus­ses, den mei­ne Groß­mut­ter zu­be­rei­te­te.
Mei­ne Groß­mut­ter mach­te ger­ne Aus­flü­ge, Ta­ges­rei­sen, Halb­ta­ges­fahr­ten an den lan­gen Som­mer­ta­gen, im Bus. Sie konn­te sich mit nie­man­dem un­ter­hal­ten au­ßer mit mir, aber in­mit­ten all der schot­ti­schen Aus­flüg­ler sag­te sie noch we­ni­ger als sonst. Wir schau­ten aus dem Fens­ter, und bei be­son­de­ren An­bli­cken, vor al­lem, wenn wir Tie­re sa­hen, High­land-­Rin­der oder hir­ten­los um­her­strei­fen­de Schafs­grup­pen auf den Moo­ren, zeig­ten wir bei­de gleich­zei­tig da­rauf, und sie freu­te sich und lach­te. Doch ei­nes der klei­nen Fra­ge-­Ant­wort­ri­tu­a­le, die ich mit mei­ner Groß­mut­ter pfleg­te, fand auf die­sen Fahr­ten ins Blaue statt, in die Trossachs oder nach Arro­char. Es wa­ren kei­ne wei­ten Fahr­ten, eher nach­mit­täg­li­che Klein­aus­flü­ge, mit ei­ner Pau­se für Tee und Scones in Callan­dar oder Aber­foyle. Je­des­mal, wenn wir an ei­ner Baum­grup­pe gleich wel­chen Um­fangs vor­bei­ka­men, stell­te ich mei­ner Groß­mut­ter die­sel­be Fra­ge: »Oma, ist das ein Wald? Ist das ein rich­ti­ger Wald?« Und im­mer kam, be­glei­tet von ei­nem be­däch­ti­gen Kopf­schüt­teln, die­sel­be Ant­wort: Nein, das ist kein Wald. Das ist kein rich­ti­ger Wald.

M.

Am ers­ten Mor­gen scheint die Son­ne. Aus dem Vor­der­fens­ter geht der Blick auf ei­nen Bau­ern­hof, um­ge­ben von ei­nem rie­si­gen Rü­ben­feld. Der Hof steht voll mit ros­ten­dem Ge­rüm­pel. Zwei Ju­gend­li­che ma­chen Fahr­übun­gen auf ei­nem klei­nen al­ten Trak­tor, der dunk­le Ab­gas­wol­ken aus­stößt. Auf die Fra­ge nach dem Fuß­weg in die Stadt sagt die Be­sitze­rin: In der Nacht ist mir noch et­was aus der Schu­le in Frank­reich ein­ge­fal­len. Sie holt tief Luft und de­kla­miert die Fa­bel vom Fuchs und dem Ra­ben, auf Fran­zö­sisch. Ich hö­re die Stim­me mei­ner Mut­ter, die uns als Kin­dern die Fa­bel manch­mal als Gu­te­nacht­ge­schich­te auf­sag­te. »Hé! bon­jour Mon­sieur du Cor­beau!« ruft die Frau im Schmei­chel­ton, das kann sie bes­ser als mei­ne Mut­ter. Dann er­klärt sie den Weg.

Das Haus liegt in ei­ner Mul­de, un­weit des Sees, den Zu­gang ent­de­cken wir spä­ter erst. Der Weg in die Stadt führt leicht berg­an, ge­säumt von Gras­strei­fen vol­ler Blu­men, Mar­ga­ri­ten, Korn­blu­men, Weg­war­te, Wit­wen­knopf und Ka­mil­le. Hier und da noch ro­ter Mohn. Węgorz ist der Aal, doch heißt der Ort auf deutsch nicht et­wa Aal­heim oder Aa­lig son­dern An­ger­burg. Der pol­ni­sche Na­me ist nass und be­weg­lich, der deut­sche tro­cken und fest. An den Wie­sen­weg schließt sich ein Kies­weg an, der zwi­schen säu­ber­lichen Gärt­chen und Ei­gen­bau­häus­chen vor dem Hin­ter­grund hoch­stäm­mi­ger Kie­fern auf den klei­nen Markt am Orts­rand führt. Ein paar Händ­ler ste­hen mit ih­rer be­schei­de­nen Wa­re be­reit, die um die­se Jah­res­zeit nur aus To­ma­ten be­steht, rie­si­gen To­ma­ten mit ei­ner dün­nen ro­sa­ro­ten Scha­le, viel­leicht ei­ne hie­si­ge Sor­te, flei­schig und fleisch­ro­sig, duft­los, und nur die­se To­ma­ten, als hät­ten sie al­les an­de­re er­drückt oder ver­schlun­gen, al­les au­ßer den Dah­li­en, die zaun­hoch ste­hen, men­schen­hoch, bunt­köpfig wie Kin­der­spiel­zeug, wach­sam, die Ge­or­gi­nen, wie sie re­gi­o­nal hei­ßen. Sie ni­cken uns zu, kun­ter­bunt. Da­hin­ter hän­gen die ro­sa­häu­ti­gen To­ma­ten­köpfe, zu schwer um zu ni­cken. Wir ge­hen zum Amt, auf der Su­che nach Ar­chi­ven, Grund­buch­ein­trä­gen, Hin­wei­sen auf Orts­na­men und Re­gis­ter. Tü­ren schla­gen im Durch­zug, Gar­di­nen bau­schen sich im Wind. Ei­ne Be­am­tin in wa­den­lan­gem Rü­schen­kleid, das in der Wer­bung si­cher als »nos­tal­gisch« be­zeich­net wür­de, er­klärt, die Zeit vor 1945 ge­be es nicht mehr. Wie zur Be­kräf­ti­gung öff­net sie ei­ne lee­re Schub­la­de im nächst­ste­hen­den Ak­ten­schrank. Sie steht im Durch­zug, der ih­re klein­ge­blüm­te Hals­krau­se auf und ab flat­tern lässt. Kar­ten mit vor­pol­ni­schen Orts- und Stra­ßen­na­men sind nicht mehr vor­han­den. Die Da­ten auf den Grab­stei­nen set­zen mit 1947 ein. In ei­ner klei­nen Bib­li­o­thek mit Tou­ris­ten­füh­rern und ei­nem zwei­spra­chi­gen Band zur Auf­ar­bei­tung ge­mein­sa­mer Ge­schich­te dür­fen wir ver­wei­len. M. ver­gleicht sei­ne über die Jah­re ge­mach­ten No­ti­zen aus Ge­sprächs­bro­cken und ei­ner Hand­voll er­hal­te­ner Brie­fe mit den Aus­schnit­ten von Land­kar­ten und Ver­zeich­nis­sen von Orts­na­men in den Bü­chern, die al­le erst in den letz­ten Jah­ren er­schie­nen sind. Weit kommt er nicht.

Wir schla­gen den Weg zum See ein, vor­bei an ei­nem Se­gel­boot­ha­fen, wo sich Tou­ris­ten an ih­ren Boo­ten zu schaf­fen ma­chen. Wohl­tu­en­de Lau­te an­de­rer Spra­chen als pol­nisch und deutsch – rus­sisch, li­tau­isch, schwe­disch. End­lich ein Som­mer­tag, noch kein Re­gen in Sicht. Ei­ne Damp­fer­fahrt auf den See, ein klei­nes Ver­gnü­gungs­boot mit viel­leicht fünf­zehn, zwan­zig wei­te­ren Pas­sa­gie­ren. Ei­ni­ge spre­chen rus­sisch. Der Weg hin­aus auf dem Ka­nal zwi­schen einer säu­ber­li­chen und ge­stutz­ten Pro­me­na­de und schil­fi­ger Wild­nis ist lang. Das Was­ser des Sees wirkt fast schwarz, trotz des blau­en Him­mels. Ei­ne Zeit­lang hält das Boot di­rekt in Rich­tung Wes­ten, auf das ge­gen­über­lie­gen­de Ufer zu, wo blau­er, dich­ter Wald zu ei­nem klei­nen Hü­gel­kamm an­steigt. Die­ser Wald. Dann in schar­fer Wen­dung zu­rück, wie aus plötz­li­cher Um­be­sin­nung.

Im Som­mer 1960 fuh­ren mei­ne Mut­ter, mei­ne Groß­mut­ter und ich für ei­ne Wo­che in Ur­laub. Es war das ers­te Mal, daß ich Schott­land be­wusst ver­ließ. Mei­ne Mut­ter hat­te für uns ein Zim­mer in ei­ner Pen­si­on im Lake District ge­bucht, dem von Mit­tel­ge­bir­gen um­ge­be­nen Seen­ge­biet süd­lich der schot­ti­schen Gren­ze. Viel­leicht hat­te sie an die ma­su­ri­schen Seen ge­dacht, die Hei­mat­land­schaft mei­ner Groß­mut­ter, in der es al­ler­dings weit und breit kei­ne Ber­ge gab. Der Lake District war ei­ne der Ge­sund­heit zu­träg­li­che Ge­gend, nicht rau und stür­misch wie die Küs­te, für die mei­ne Mut­ter und Groß­mut­ter we­nig üb­rig hat­ten. Bis da­hin hat­ten wir nur – von Ta­ges­tou­ren zum Loch Lo­mond oder nach He­lens­burgh und Fahr­ten ins Blaue von der Bus­sta­ti­on an der Dunds Street ab­ge­se­hen – kur­ze Fe­ri­en in Prest­wick und in North Ber­wick ver­bracht, die ich düs­ter und kalt in Er­in­ne­rung hat­te. Jetzt, so hoff­te mei­ne Mut­ter, wür­den wir mit dem Über­que­ren der Gren­ze den Re­gen und die wil­den Wol­ken Schott­lands hin­ter uns las­sen, das Kli­ma wür­de mild sein, die Zeug­nis­se der Ge­schich­te in­ter­es­san­ter und en­ger mit der eng­li­schen Kro­ne ver­bun­den, viel­leicht wür­de ich so­gar et­was von dem Speck los, den mir die Ge­rich­te mei­ner Oma be­schert hat­ten, die Ost­preu­ßen­kü­che, wie mei­ne Mut­ter es nann­te.
Es war ein mil­der Tag. Wir gin­gen ei­ne klei­ne Land­stra­ße ent­lang, die kaum brei­ter war als ein Fuß­weg. Gras­be­wach­se­ne Bö­schun­gen, da­rü­ber He­cken. Ich ging vo­ran, dann kam mei­ne Mut­ter, ein klei­nes Stück hin­ter ihr mei­ne Groß­mut­ter. Ei­ne leich­te Kur­ve berg­ab. Ein Aus­tin Cam­bridge, des­sen Strom­li­ni­en­form in ei­ne ver­chrom­te Stahl­kap­pe über den Schein­wer­fern aus­lief, kam uns, sehr dicht am Stra­ßen­rand, ent­ge­gen. Mei­ne Mut­ter riss mich an die Bö­schung, das Au­to streif­te mich bei­na­he, im drit­ten Gang. Ich dreh­te mich au­to­ma­tisch um, als das Au­to vor­bei war. Mei­ne Groß­mut­ter, Oma, hing über der Mo­tor­hau­be, über den Schein­wer­fern, ih­re Bei­ne ge­spreizt, als ob ein Ma­ri­o­net­ten­spie­ler den Fa­den ganz straff ge­zo­gen hät­te, die Ar­me vor­wärts ge­streckt, ihr Man­tel, der ver­trau­te grü­ne Re­gen­man­tel, wie ein Bal­lon ge­bläht. Kein Laut. Ja, Ich kann mich an kei­nen ein­zi­gen Laut er­in­nern, und dann war mei­ne Groß­mut­ter ein Hau­fen aus Bei­nen und Re­gen­man­tel am Rand der Bö­schung, und mei­ne Mut­ter schrie und rann­te.

Am zwei­ten oder drit­ten Tag ma­chen wir uns auf, die Or­te auf Ms Lis­te zu fin­den. Fa­mi­li­en­or­te, spär­li­chen ver­blie­be­nen Do­ku­men­ten ab­ge­mol­ke­ne Hin­wei­se und Ver­mu­tun­gen, deut­sche Na­men. Die er­hält­li­chen Land­kar­ten sind dürf­tig und lü­cken­haft und über­haupt schwer auf­zu­trei­ben, als soll­te noch et­was ver­bor­gen wer­den und im Un­kla­ren blei­ben. Aus den deut­schen Na­men lässt sich kaum ei­ne Ver­bin­dung zu den we­ni­gen be­nann­ten Dör­fern her­stel­len. Ms Lis­te der auf­zu­su­chen­den Or­te ist auf we­ni­ge Na­men ge­schrumpft. Der Wei­ler, aus dem der Groß­va­ter stam­men soll, bleibt un­auf­find­bar, viel­leicht war es auch nur ein Hof, wo die Ko­pie der al­ten Land­kar­te ei­nen Ort ver­zeich­net, zeigt die heu­ti­ge pol­ni­sche Kar­te nur die klei­nen Wel­len an, die Moor be­deu­ten, Sumpf, trü­ge­ri­sches Ge­län­de. Ab­seits der Stra­ße tut sich sum­pfi­ges Hei­de­land auf, schar­fe Seg­gen­grä­ser schnei­den in die Haut, kein Haus weit und breit, kei­ne Über­res­te, nicht mal ein Ge­büsch, das über Trüm­mer hät­te wu­chern kön­nen. In Ge­dan­ken se­he ich ei­nen Mann ge­duckt durch das schar­fe Gras wa­ten, klei­ner wer­den, sich in der of­fe­nen Land­schaft ver­lie­ren, um im Os­ten zu blei­ben.

Grundischken aber fin­den wir, heu­te Grądziszki, ein win­zi­ger Wei­ler, ei­ne holp­ri­ge Stra­ße. Kü­he wei­den un­ter ei­nem hell­blau­en Bil­der­buch­him­mel mit wei­ßen Wol­ken. Kein Mensch ist zu se­hen, doch der Hof, in dem M. die Magd­jah­re der Groß­mut­ter ver­or­tet, ist of­fen­sicht­lich be­wohnt. Ein Baum hängt vol­ler Äpfel. M. sam­melt drei vom Bo­den, und ei­nen Stein. Wir fol­gen ei­nem aus­ge­fah­re­nen Sand­weg zum Wald. Der Wald, der Wald. Blau und still und tief hin­ter der Wand aus Gel­sen­ge­summ. Die rie­si­gen grau­brau­nen In­sek­ten nä­hern sich wie ein Ge­schwa­der, stür­zen sich auf je­de Stel­le blo­ßer Haut, ste­chen durch die dün­ne Som­mer­klei­dung, las­sen sich auch von dem ge­zück­ten Spray nicht ver­trei­ben. Nach hun­dert Me­tern er­grei­fen wir die Flucht. In die an­de­re Rich­tung säu­men lich­te Hai­ne die fla­chen, hel­len, von schil­fi­gen Ent­wäs­se­rungs­grä­ben durch­zo­ge­nen Fel­der und Wie­sen. In wel­che Rich­tung wird sie ge­gan­gen sein, ihr Bün­del ge­packt, die Schwan­ger­schaft viel­leicht schon sicht­bar, um den Ta­ge­löh­ner Hein­rich auf­zu­su­chen? Es ist ein an­halts­lo­ses Nir­gends­land rings­um, ich kann mir die Ge­stalt der fort­ge­schick­ten jun­gen Frau auf dem Weg nur als all­mäh­li­ches Ver­schmel­zen mit dem flim­mern­den Ho­ri­zont vor­stel­len, den nach Wes­ten kein Wald­saum ver­stellt.

Zu­letzt geht es nach Gołdap, oh­ne zu wis­sen, was dort zu fin­den sein mag. Ei­nen Fried­hof wird es wohl ge­ben. Die Land­schaft hat et­was selt­sam Lieb­li­ches, man möch­te fast den­ken: Un­be­rühr­tes. Klei­ne Fel­der, Wäld­chen, die be­klem­men­den gro­ßen dunk­len Seen blei­ben au­ßer Sicht­wei­te. Heu liegt in Schwa­den, Gers­te steht noch auf ein­zel­nen Fel­dern, ei­ne aus schot­ti­scher Land­schaft ver­trau­te Nei­gung der Äh­ren, wenn der Wind da­rü­ber geht. Gołdap ist klein, die In­nen­stadt hat et­was Ku­lis­sen­haf­tes, ein paar re­stau­rier­te Fas­sa­den an Stra­ßen, die schnell zu ei­nem dörf­li­chen Rand hin aus­fa­sern und ab­brö­ckeln. Ein star­ren­des Kind in ei­nem Vor­gar­ten, als sei es da­zu be­stellt, die stum­me Schwes­ter, die aus der of­fe­nen Haus­tür des Miets­hau­ses da­zu­tritt, mit ei­nem ab­ge­glitzer­ten Hu­la-­Hoop-­Rei­fen in der Hand. Nur nicht Um­schau­en, um ih­rem Hin­ter­her­blick nicht zu be­geg­nen.
In der Mit­te des Städt­chens der Gast­stät­ten­prunk aus kunst­stof­fe­nem Schein­schmie­de­ei­sen, um­wun­den mit kunst­stof­fe­nen Blu­men im Gast­gar­ten, al­les für die deut­schen Pen­sio­nis­ten, die sich am bil­li­gen Bier er­freu­en und in den Er­in­ne­run­gen frü­her Kind­hei­ten oder im Hö­ren­sa­gen von Kind­hei­ten wüh­len, an­ge­sta­chelt von Hei­mat­ver­lan­gen un­ent­wegt wüh­len, um et­was zu fin­den, ein paar Scher­ben Lau­schig­keit aus der Vor­flucht­idyl­le, da wir noch, da wir. Der Ge­ruch nach ge­al­ter­tem Brat­fett. Die deut­sche Pen­sio­nis­ten­freu­de an den gro­ßen Stü­cken Fleisch, das in dem Brat­fett ge­sot­ten ist wie ein Stief­kind im Mär­chen, ein ra­de­bre­chen­der Kell­ner, der ser­viert, den Hei­mat­lüs­ter­nen ihr Fleisch auf­trägt. Wo sitzt man hier im Win­ter? Und wer? Kom­men dann die Hie­si­gen aus ih­ren stum­men Häu­sern und scha­ren sich in der dunk­len Gast­stu­be um The­ke und Ti­sche und spre­chen von all dem Aus­ge­som­mer­ten, das ih­nen für den Win­ter bleibt, fällt drau­ßen dann Schnee?

Zu gu­ter Letzt fin­den wir auch den Fried­hof, den ge­such­ten, ver­bor­gen hin­ter und un­ter dich­tem Ge­büsch, Saum­ge­strüpp ei­nes Turn­pla­tzes und ei­nes Ver­gnü­gungs­orts, Stim­men hö­ren wir, La­chen, joh­len­des Auf­klat­schen in Was­ser. Die zer­bro­che­nen und in die Er­de ge­sun­ke­nen Grab­stei­ne sind von Er­de und Laub be­deckt, von Ab­fall, ein­zel­nen Fet­zen aus­ge­bleich­ter Kunst­stoff­blü­ten, Men­schen­kot. Hier ist der vom Sum­men und Sir­ren rie­si­ger Schmeiß­flie­gen und Gel­sen er­füll­te Ab­ort der Ver­gnü­gli­chen, der Hie­si­gen, die man un­sicht­bar la­chen und plant­schen hört. Mich dau­ern die To­ten, ich se­he Ms Ver­stört­heit, sei­ne Schuh­spitze kratzt über Stei­ne, und nur ein­zel­ne Buch­sta­ben tre­ten her­vor, und trotz­dem kann ich mich des Ge­dan­kens an aus­glei­chen­de Ge­rech­tig­keit nicht er­weh­ren.

Nach Jah­ren be­such­ten wir Glas­gow und das Grab mei­ner Groß­mut­ter. Ich hat­te an­fangs ge­zö­gert, viel­leicht aus ei­nem Schuld­ge­fühl her­aus. Wir gin­gen in ei­nen Blu­men­la­den an der Kel­vin Bridge, ge­gen­über der Metro­sta­ti­on, und wie es der Zu­fall woll­te, war ge­ra­de Sai­son für Korn­blu­men, die em­ble­ma­ti­sche Blu­me Ost­preu­ßens, wo mei­ne Groß­mut­ter auf­ge­wach­sen war. Ih­re Er­zäh­lun­gen von der Land­schaft Ost­preu­ßens wa­ren der Ho­ri­zont, der mei­ne Kind­heit de­fi­nier­te, durch den sich mein Sinn für Ort und Ge­schich­te ent­wickel­te, für die Ver­schie­bun­gen und Be­we­gun­gen zwi­schen Ost und West, hin und her über das Trüm­mer­feld Mit­tel­eu­ro­pas.
Der Weg zum Fried­hof war nicht schwer zu fin­den. Ich er­in­ner­te mich noch gut an die Bus­stre­cke, ber­gauf durch Possil und Lamb­hill. Und am nörd­li­chen Rand der So­zi­al­bau­sied­lung von Lamb­hill – der Fried­hof. Zu­erst der ka­tho­li­sche Fried­hof an dem aus dem Tal an­stei­gen­den Hang, mit vie­len ita­li­e­ni­schen Na­men auf den Grab­stei­nen, und mit iri­schen Na­men. Dann, hin­ter der Mau­er, durch ei­ne Lü­cke, die breit ge­nug war, um ein Au­to hin­durch­zu­las­sen, die pro­tes­tan­ti­sche Ab­tei­lung. Der Fried­hof war nicht er­wei­tert wor­den. Das Grab mei­ner Groß­mut­ter lag im­mer noch in der letz­ten Rei­he, in der nord­öst­li­chen Ecke, gleich an der Feld­stein­mau­er, die die Fried­hofs­gren­ze bil­de­te. Ihr Grab­stein war klein und ganz schlicht: Helene Post 1898 – 1960 (born Kerutt).
Un­ter die­sen Zei­len war Platz für zwei wei­te­re Na­men. Mei­ne Mut­ter hat­te in Glas­gow ein Grab für drei Per­so­nen ge­kauft: für mei­ne Groß­mut­ter, für sich und für mich.
Die Mau­er war nied­rig ge­nug, um noch da­rü­ber schau­en zu kön­nen. In den sechs­und­drei­ßig Jah­ren seit der Be­er­di­gung mei­ner Groß­mut­ter war auf der an­de­ren Sei­te der Mau­er nichts ge­baut wor­den. Ein Feld, leicht hü­ge­li­ges Land, da­hin­ter die grü­nen, un­be­wal­de­ten Campsie Fells, die sich wie eine moos­be­wach­se­ne Fel­sen­wand er­ho­ben. Links die Stra­ße von Lamb­hill her. Wir leg­ten die Blu­men aufs Grab und stan­den eine Zeit­lang schwei­gend da. Ich war froh, dass der Fried­hof hüb­scher aus­sah, als ich ihn in Er­in­ne­rung hat­te. Er war grü­ner, nied­ri­ge Bäu­me und Ge­bü­sche stan­den über das wei­te Ge­län­de ver­teilt, hier und da ein Fle­cken ge­stutz­tes Gras. Und nach Nor­den la­gen die stei­len kah­len Hü­gel, so an­ders als die Wäl­der und Seen, die mei­ne Groß­mut­ter be­schrie­ben hat­te, ei­ne Ge­gend, in der sich im Win­ter an­geb­lich Wöl­fe ein­fan­den, die über die li­tau­ische Gren­ze ka­men.

Esther Kinsky wird 1956 in Engels­kirchen geboren. Bis heute arbeitet sie als Über­setz­erin aus dem Pol­nischen, Eng­lischen und Russischen. Kinsky schrieb Kinder­bücher, legte Gedicht­bände und Romane vor. Am Fluß wird 2015 mit dem Kranich­steiner Literatur­preis prämiert. Kinsky lebt in Berlin und Battonya.

Produktion/Satz: Holm-Uwe Burgemann
Bilder: Esther Kinsky

Gestaltung: (Studio) Daniel Zenker
Programmierung: Thomas Günther

SPIEGELLAND: NEUE MONOLOGE
Gefördert durch das Land Berlin

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Gołdap-Glasgow. Zwiestimmige Reise
Kapitel I–V
I [Wo beginnen die Reisen? …]
II [Meine Großmutter war …]
III [Auf unseren Spaziergängen …]
IV [Im Sommer 1960 …]
V [Nach Jahren …]

Im Rah­men un­se­rer ge­mein­nützi­gen Ar­beit nach § 52 Abs 2. Satz 1 Nr. 5 AO sind wir be­rech­tigt, steu­er­be­gün­stig­te Zu­wen­dun­gen ent­ge­gen­zu­neh­men und da­rü­ber Zu­wen­dungs­be­stä­ti­gun­gen aus­zu­stel­len. Die­se kön­nen Sie nach §10b EStG als Son­der­aus­ga­ben bei Ih­rer Steu­er­er­klä­rung gel­tend ma­chen und er­hal­ten so ei­nen Teil des ge­spen­de­ten Be­tra­ges zu­rück. Soll­te das für Sie re­le­vant sein, sen­den wir Ih­nen die­se im An­schluss an Ih­re Spen­de ger­ne zu.