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MAN WIRD DARAUS EINMAL ALLE KONSEQUENZEN ZIEHEN.
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ARCHIV
SENTIMENTHEK
Texte über Texte aus einer sentimentalen Bibliothek.
#65 Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita
Die Sommermonate seiner Kindheit und Jugend verbringt Pier Paolo Pasolini in Casarsa della Delizia, dem Geburtsort seiner Mutter, einer kleinen Gemeinde im norditalienischen Friaul. In ihrer Kurzweiligkeit prägen diese Aufenthalte Pasolini stark, bilden, trotz allem, die einzige Konstante in einem von zahlreichen Stadtwechseln geprägten Heranwachsen.
#64 Saidiya Hartman: Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)
Dies ist ein Langgedicht, an dem jede Beschreibung endet. Dies ist die Grenze, hinter der das »Aufheben des Schmerzes«, den wir angesichts des Ungeheuerlichen empfinden müssen, in seiner ursprünglichen Ganzheit, als Bewahrenswertes und als Abschaffung der Geschichte bis hierhin, gelingt und echte Anteilnahme möglich wird. Hier ist Sprache wahrhaft menschlich. Hier denke ich an Teju Cole, der sagt: »Literature can save a life.« Und warum sollte das nicht auch für diese gelten?
#63 KARL OVE KNAUSGÅRD
#63 Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche
Nehmen wir an, es ist möglich, über das eigene Leben zu schreiben. Nehmen wir an, wir hätten über das eigene Leben geschrieben. Worüber schreiben wir danach?
#62 Marlene Streeruwitz: Flammenwand.
Es ist möglich, sich die Welt als eine gläserne Vase vorzustellen, für die es zwei Zustände gibt: zuerst den intakten, in der sie noch Blumen hält und in dem sie das durch sie hindurchgehende Licht sanft zum Regenbogen bricht, und dann jenen zersprengten, in dem die Vase unauffindbar ist und stattdessen Scherben den Boden übersäen. Eine Literatur, die aus der Geschichte kommt, um die Gegenwart zu beschreiben, müsste beantworten, was hier geschehen ist. Die Aufgabe der Schriftstellerin bestünde demnach in einer Scherbenlese; während es unsere ist, ihr dabei so sehr zuzusehen, wie wir nur können.
Also.
#61 Lisa Krusche: Unsere anarchistischen Herzen
Das ist der Abend der Premieren, sagt Lisa später. Doch der große Saal, von dem aus der Livestream ihrer Debütlesung gesendet wird, ist beinahe leer. Das ist seine Haupteigenschaft an diesem Abend, wie an so vielen des vergangenen Jahres. Wir selbst sind in diesem Raum wie blinde Passagiere, die vor den Augen derer auf der Bühne ein reales Publikum simulieren, das bestenfalls nur digital existieren kann. Lisas Nervosität, die ihr anfangs anzumerken ist, verfliegt im Laufe der Stunde, in der sie über ihren ersten Roman spricht. Nach der Veranstaltung greift sie sich noch ihre angefangene Cola-Flasche und verschwindet mit dieser und uns in die Nacht.
#60 Tobias Premper: Aber nur dieses eine Mal
Wir erstellen ein Dokument, in das ich eine Auswahl seiner Notizen packe. Nach einigem Hin- und Herschicken haben wir uns stillschweigend, durch mehr oder weniger kommentiertes Basteln am Dokument, auf eine minimalistische Struktur aus Notizenpaar, Kommentar, Nachtrag und einem Abschluss in je drei Sätzen geeinigt.
#59 Alice Oswald: 46 Minuten im Leben der Dämmerung
Um zu sprechen, gehe ich Umwege. Sie führen mich zur Wiederholung dessen, was schon gesagt worden sein wird, und sie führen mich zur Differenz von dem, was auch gesagt worden sein könnte. Ich, meine Stimme, spricht mit Anderen – aus mir spricht eine Andere. Die lyrische Dichtung hat diese Struktur immer schon gekannt.
EIN MONOLOG MIT CHRISTIAN REINER
#58 Joseph Brodsky: Große Elegie an John Donne
John Donne schläft ein. Mit ihm die Welt um ihn herum: Der Teppich erst, die Schüssel, das Zimmer, schließlich ein Schiff, die Wälder, sogar die Grammatik, sogar die Feindschaft schläft. Brodskys Elegie liest sich unter dem Eindruck der pandemischen Gegenwart wie ein poetischer Vorgriff, der uns sodann ganz physisch berührt.
#57 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt
Auf den langen Sommer der Theorie ist ein stiller Herbst gefolgt. Und in manch einem linken Institut ist man von den eigenen schillernden Widerstandsvokabeln tiefer bewegt als vom realen Protest. Daniel Loick weiß, wie schnell Kritik zur Liturgie erstarren kann. Seine Kritiken der Souveränität, des Eigentums, der Polizei und der liberalen Staatsgewalt an sich sind der Entwurf einer aktivistischen Theorie. Er kämpft für ein anderes Recht auf anderen Gründen. Darum sprechen wir über Walter Benjamin.
#56 Simone Weil: Die Ilias oder das Poem der Gewalt
Sie war eine Monolithin am Abgrund. Eine Revolutionärin der Moderne selbst, geboren in einer Welt, die für sie keine Zeit zu sterben duldete. Simone Weils kurzer Aufsatz über Homers
Ilias
als die Urszene der modernen Gewalt könnte heute ikonisch sein – wäre er von den späteren und meist schmalspurigeren Schriften anderer nicht verdeckt worden. Die Erfahrung, einen Text von so schneidender Klarheit und so schlagender Imagination erst spät gelesen zu haben, ist universell. Sofern es denn dazu kommt.
#55 Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen
Martin Saars Antwort auf die erste Frage dieses Gesprächs spricht das Glück aus, das die Suche mit Proust bedeuten kann – ein Lesen auf von der Sonne erhitztem Sand, vielleicht sogar auf dem Cirque de la Madeleine, während die anderen längst Auf Wiedersehen sagen, weil sie Schöneres vorhätten – und betrifft schließlich auch Gilles Deleuze eigene Bindung an Proust: Warum ist die Literatur in der Philosophie so unsichtbar, wo sie für ihre Autor:innen doch so wichtig ist? Und warum überhaupt noch Philosophie, wenn es doch Romane gibt.
#54 Giorgio Agamben: Das Abenteuer. Der Freund
Die Erfahrung der Freundschaft zu machen heißt, die Erfahrung der Nähe zu machen, die sich nicht prädikativ ausdrücken lässt. Es ist die Erfahrung einer Sprachlosigkeit. Wie können wir von der Freundschaft sprechen, wenn sich die Erfahrungen der Freundschaft der Sprache entziehen?
#53 Giorgio Agamben: Pulcinella oder Belustigung für Kinder
Agamben will zeigen, dass keine Autobiographie, sondern immer nur eine Biographie möglich ist. Auch dann, wenn wir über uns selbst schreiben, schreiben wir über einen Menschen, der wir nicht sind. Agamben schreibt über sich als ein anderer und ebenso schreibt ein anderer über ihn. Und dieser andere ist immer schon er. Pulcinella und Agamben, Agamben und Pulcinella.
#52 Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste
Hören wir die Klage, die von dem Satz ausgeht? Dass die Welt nur um das Bekannte zu trauern vermag? Denn wie könnten wir das Unbekannte auch betrauern? Mit welchen Vokabeln ritualisierten wir dann unser Gedenken der Dinge, die wir nicht kennen? Wie würdigten wir im Anschluss mit unserem Schreiben auch das Ungeschriebene?
#51 Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft
Den Raum der Leere können wir nicht bewohnen. Wir können ihn nicht von innerhalb denken, sondern nur von außerhalb, stellen ihn uns vor als Leer___stelle, eine Lücke, die der Teufel lässt, um uns zu ärgern. Wenn es ein Motiv gibt, das Heinz Helles neuer Roman, Die Überwindung der Schwerkraft, antastet, dann ist es dieses. Der Moment, in dem wir sprechen, ohne zu wirken, Sinn produzieren, der sich für den einen, um den es wirklich geht, verspätet und darum uns alle betrifft.
#50 Martin Amis: Im Vulkan
So schreibt Amis: beißend, witzig, ironisch, gezielt übertrieben. Er traut sich selbst Einblicke in und Behauptungen über das Innenleben seiner Gegenstände zu, vor denen andere Reporter zurückschrecken. Er bewahrt sich auch bei Reportagen, Rezensionen, Reiseberichten und anderen Sachtexten eine großzügig ausgelegte Freiheit, die er aus seiner Haupttätigkeit als Romancier gewohnt ist. Auf die Spitze treibt er es bei seinem Reisebericht über die sogenannte Flüchtlingskrise in Deutschland. Er entschied sich in »Oktober« dazu, keinen Essay zu schreiben, sondern seine Geschichte über die Krise als Story zu veröffentlichen. Aus der Erzählperspektive eines fiktiven Autors schildert er die von der Flüchtlingskrise direkt oder indirekt berührten (und ebenso fiktiven) Schicksale.
#49 Kathleen Collins: Nur Einmal
Man kann sich diese Leichtfüßigkeit kaum erklären. Wie gelangt sie in die Worte und wie wieder aus ihnen heraus, zu ihren Leserinnen? Auf leisen Sohlen schleicht die Erzählerin durch die harten Realitäten, durch »schwarz« und »weiß«. Die Farben in Anführungszeichen gesetzt. Vielleicht, um zu zeigen, dass es sich damit nicht bloß um Hautfarben handelt, sondern um den gesellschaftlichen Status, der …
#48 Mascha Kaléko: Mein Lied geht weiter
Wandelbar war schon ihr Name. Mascha Kaléko hieß nicht immer so. Geboren wurde sie als Golda Malka Aufen im heutigen Polen. 1922, fünfzehn Jahre nach ihrer Geburt, erhielt sie infolge der standesamtlichen Heirat ihrer Eltern den Namen des jüdischen Vaters, Engel, sowie den Vornamen Mascha. So, wie sie uns heute im Gedächtnis ist, heißt sie schließlich seit 1928, seit dem Jahr ihrer …
#47 Chris Kraus: I Love Dick
Dieser Titel ist irreführend, aber nicht so, wie Sie glauben. Es handelt sich bei I Love Dick um eine »Phänomenologie des einsamen Mädchens«. Der Titel ist zunächst einmal nicht pornografisch gemeint. Das garantiert der ausbleibende Artikel: Das einsame Mädchen liebt nicht etwa a oder gar the dick. Es liebt auch nicht seinen Plural: dicks. Dieses »Mädchen« liebt diesen Dick, den Mann, dessen …
#46: Aleida Assmann: Im Dickicht der Zeichen
Eine kurze Frage, bevor Sie beginnen, diesen Text zu lesen: Haben Sie sich schon einmal im Wald verlaufen? Womöglich ja sogar in der Abenddämmerung, nach einem ausgedehnten und entdeckungsfreudigen Spaziergang querfeldein, bei dem man jeder noch so kleinen und unscheinbaren Weggabelung Beachtung schenkt, um sich neue Räume zu erschließen. Was als …
#45 Alexander Kluge und Ben Lerner: Schnee über Venedig
Wasser ist die einzige chemische Verbindung, die auf natürliche Weise in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Als Wasser flüssig, als Eis fest, als Wasserdampf gasförmig. Wollten wir das Werk Alexander Kluges als Äquivalent zur Verbindung H2O verstehen, wäre die Dichteanomalie des Wassers die maßgebliche Eigenschaft, mit der sich sein Werk in einzelne Felder trennen …
#44 Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhundert
Es gibt Geschichtspolitik. Sie existiert, und das besonders heute, als Modus eines ausdrücklichen populistischen Rearrangements und nicht als das spätere Schreiben einer Geschichte, die sich erst noch ereignen wird. Geschichte ist kalt, menschenentleert, schreibt Marcel Beyer. Die Erinnerung, von der wir Menschen sprechen, ist warm. In ihrem Andenken vergießen wir Tränen. Nun ist Das …
#43 Truman Capote: Wo die Welt anfängt
Truman Capote war nicht irgendein Mann. Er war nicht irgendein Schriftsteller, einer von vielen, einer unter anderen. Er war der andere Erzähler, weil er über so viel Gewöhnliches so ungewöhnlich schrieb. Truman Capotes einzigartiges literarisches Können zeigt sich an seinen stilistischen Experimenten, von Gedichten, Kurzgeschichten, Reiseberichten, Reportagen, Romanen bis hin zur Kulmination in …
#42 Christian Kracht: Faserland
Kaum ist er an einem Ort angekommen, zieht es ihn weiter. Immer weiter. Rast kennt er nicht, Halt kennt er nicht. Unter seinem Blick beginnt das Land zu zerbröckeln, bis nicht mehr viel von ihm übrig ist. Natürlich ist das keine Kaffeefahrt. Faserland ist die Geschichte einer Flucht, in der alles verschlungen wird. Erst er, der namenlos Hetzende und mit ihm, die Lesenden. Der Text hat sie sich …
#41 Jean Cocteau: Thomas der Schwindler
Ein Lügner lügt planvoll; der Schwindler schwindelt von ganzem Herzen. Deswegen verwechselt er die Wirklichkeit mit seinem Phantasma, deswegen vertraut er seiner eigenen Narration und bewegt sich darin mit somnambuler Sicherheit. Nicht aus der Notwendigkeit, die sich aus der Strategie ergibt, sondern aus der Leidenschaft des Herzens. Wer in die Lüge …
#40 Jörg Baberowski: Räume der Gewalt
Es wäre einfacher, ja erträglicher, das Buch schnell durchzulesen, um es nicht immer wieder aufschlagen zu müssen, doch wir würden das Beschriebene in seiner Ernsthaftigkeit dann nicht nachvollziehen können. Zu einem adäquaten Verständnis von Gewalttaten bedarf es eines anderen Blicks. Dieser Blick übersteigt notwendig den Einzelnen, doch …
#39 Françoise Sagan: Bonjour Tristesse
Im Stile der großen französischen Liebesromane sieht Sagan eine tragische Pointe für ihre Erzählung vor. Tragisch auch deshalb, weil ihr selbst ebenso wie einer der Hauptfiguren im Roman eine Autofahrt zum Verhängnis werden sollte. Mit gerade knapp 22 Jahren war Sagan in einen schweren Unfall verwickelt. Im Krankenhaus mit starken Schmerzmitteln behandelt worden, entwickelte …
#38 Maurice Blanchot: Warten Vergessen
Dieses Buch ist unerträglich. Es ist eine Geschichte unwirklicher Präsenz. Die eine Anwesenheit, eine Liebe, bedeuten kann, die immer möglich ist, die auszuhalten wir aber nicht imstande sein werden. So surren die Parataxen, sie ädern ins Unverständliche, haben die Stimme in ihrer alltäglichen Kenntlichkeit gebrochen.
#37 Carolin Emcke: Wie wir begehren
Wenige verbieten heute noch das Lesbischsein und doch gibt es ein Tabu, das von seiner einstigen Rechtsgestalt aus nach Innen gewandert ist. Emcke liebte Frauen anfangs nicht darum nicht, »weil ich es für falsch oder pervers hielt«. Das Tabu war ihr innerlich. Das Begehren wurde verschluckt und verschoben. Nichts war ausprobiert, nichts geschmeckt, nichts gespürt. Denn alles war von vornherein …
#36 Bruno Latour: Das terrestrische Manifest
Zu Beginn seiner Überlegungen entwirft Latour angesichts des Brexits, der Wahl Donald Trumps und des Erstarkens reaktionärer Bewegungen in Europa ein schematisches Grundtableau, das einen illustrativen Erklärungsansatz für diese Phänomene liefern soll. Die etablierte politische Unterscheidung von links und rechts verwerfend, konstatiert Latour, dass die tatsächliche …
#35 Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen
Dieses Buch ist das lyrische Phantasma trockener und hoch-komplizierter Theorie, ein Anerzählen der rätselhaften Verquickung von Sinn und Bedeutung. Senthil Vasuthevan (SV) und Valmira Surroi (VS) spiegeln einander in ihren Initialen. Sie spiegeln einander und heben einander auf, sehen sich selbst in dem anderen und den anderen als sich selbst, geflüchtet ins Reich der Zeichen.
#34 Albert Camus: Der Fremde
In seiner als »zärtlich« empfundenen Zuwendung zur Welt gelingt Meursault die Überbrückung des finsteren Abgrunds der Gleichgültigkeit, den zuzuschütten er und auch sonst niemand im Stande ist. Obwohl alle anderen Menschen diese Lage mit Meursault teilen, führen deren Wege anders über den Abgrund als der seine. Zu einem Schulterschluss kommt es nicht. Meursault bleibt den …
#33 Mercè Rodoreda: Der Garten über dem Meer
Und während die Menschen mit den Jahreszeiten kommen und gehen, Lieben aufflammen und erlöschen, die Gesichter trübe werden und für immer verschwinden, sieht der gealterte Gärtner diese kleine Welt kniend von seinen Rosenbeten aus, ist der Immeranwesende, die einzige Konstante zu einer unwirklichen Zeit.
#32 Jörg Fauser: Rohstoff
Rohstoff ist eine Meta-Erzählung über das Schreiben Fausers. Sie erzählt von den Zwängen und Widersprüchen der Kulturindustrie, die Fauser so unromantisch und schonungslos persifliert, wie er selbst gerne sein Handwerk beschrieb: Schreiben war sein Business.
#31 Alejandro Zambra: Bonsai
Das Problem, das Julio und Emilia haben, wenn sie sich die Zigarette im Bett anzünden, nachdem sie sich geliebt haben und zuvor über Proust gelogen, ist, dass ihr Verliebtsein niemals in der Liebe einrastet.
#30 Volker Weidermann: Lichtjahre
Die Leserinnen verbleiben am Ende von Lichtjahre somit nicht orientierungslos. Sie sind nun aufgefordert, sich selbst noch einmal oder zum ersten Mal auf die Reise durch die deutsche Literatur nach 1945 zu begeben, denn zur Orientierung reicht niemals nur eine Karte, ein Navigationsgerät – und auch nicht ein Buch.
#29 Paul Celan: Mohn und Gedächtnis
Schlussendlich breitet sich an ihnen die zarteste Beschwörung aus, gleich einem lautlos an steilem Steinhang abwärts schwebenden Wasserlauf, um am Ende in die Brunnentiefenschwärze des Punkts, dieses als Abschluss missverstandenen Signums des Anfangs, hinabzuträufeln.
#28 Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit
Es gibt Frankfurter Ikonen, denen man nicht entkommt. Und es gibt solche, von denen man schlimmstenfalls nie hören wird. Zu den ersteren gehört das Männerquartett des Grand Hotel Abgrund, der so genannten Frankfurter Schule. Zu den letzteren zählt Silvia Bovenschen.
#27 Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen
Die Literatur! Wer nur noch literarisch lebt, lebt, wie er vom Leben liest; der wird bald in ihr verschwinden und schließlich von ihr aufbewahrt. Gian dei Brughi ist die Romanfigur geworden, mit der er gestorben ist.
#26 Ernst Jünger: Am Sarazenenturm
Bei Wein und am Spieß über dem am offenen Feuer gebratenen Lamm treffen hier Männer nach den großen Kriegen in der Natur wieder aufeinander und wir dürfen dabei sein; und uns läuft mit ihnen das Wasser im Munde zusammen, wenn Jünger das Mahl beschreibt.
#25 Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit
an nehme sich nur einmal der Szene im Film
Nostalghia
an, in der man Zeuge der – »ungewöhnlich« ist gar kein Ausdruck – bizarren, ergreifend andächtig gefilmten Bewegung eines Mannes wird, der, eine brennende Kerze in Händen wiegend, ein stillgelegtes Thermalbecken durchschreitet.
#24 Chantal Jaquet: Zwischen den Klassen
Jaquet lässt keinen Zweifel: Soziale Härten lassen sich auf politischem Wege reduzieren, aber nicht abschaffen. Solange man immer noch schreiben muss, dass das bessere weil sicherere Leben das des angepassten Normalos ist, […] kann nicht das bloße »Übergehen« von Klassengrenzen das Ziel sein, sondern ihr Ende. Dieses Buch will damit selbst nichts zu tun haben. Sein Anspruch ist nicht politische Theorie. Gezeigt wird die Möglichkeit von Politik selbst.
#23 Herman Melville: Bartleby der Schreiber
Im postmodernen Denken ist Bartleby zu einer Heldenfigur geworden. Er weigert sich, den bestehenden Normen zu folgen. Er handelt widerständig, indem er nicht handelt. Für Gilles Deleuze ist Bartleby ein Prophet, der genau damit eine Botschaft verkündet: »Ich möchte lieber nicht«.
#22 Hartmut Böhme: Aussichten der Natur
In
Aussichten der Natur
geht es Böhme um nichts weniger als den Versuch zu zeigen, dass die Natur auch in der westlichen Tradition nicht notwendigerweise im Gegensatz zur Kultur gedeutet werden muss.
#21 Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
Den beiden Schriftstellern beim anfänglichen Spazieren lesend zuzusehen, bleibt die beruhigteste Sequenz des gesamten Buchs. Was danach kommt, was über uns hinwegfegt, ist ein wüster wilder Ritt durch alle Möglich- und Unmöglichkeiten hindurch, die das Lebensleiden des liebenden Menschen – nicht nur in der russischen Gesellschafts- und Lebenswelt der 1930er Jahre, in der die Handlung verortet ist – bestimmt.
#20 Paul Valéry: Windstriche
Entweder, man nimmt den Autor beim Wort, was mühsam ist und ermüdend. Oder aber, man spaziert durch die Sätze, bleibt stehen, guckt kurz, so wie man im Park stehen bleibt, wenn ein lustiger Schnurrbart vorbeiläuft.
#19 Thomas Bernhard: Der Untergeher
Glück und Unglück beschreibt dieser Roman ganz ausführlich, beschreibt, wie das eine über das andere herfällt, wie ein augenblickliches Glück während eines Spaziergangs das Unglück der Lebenssituation überdecken kann, aber auch, wie umgedreht, sogar das Glück am Spaziergang erdrückt wird von einem existenziellen Unglück.
#18 Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Als Hilfsknecht verdient sich der schweigsame wie fleißige Egger ein Bleiberecht, das für ihn mit brutalen Prügeln verbunden ist. Bevor sein Onkel an ihm neuerliche Prügel, an seinem 18. Geburtstag, vollstreckt, verlässt er den Onkel schließlich und beginnt sein Leben, wie ein aus der Welt Gefallener, selbst zu gestalten. Er arbeitet und baut, er liebt und verliert, er …
#17 Tuvia Tenenbom: Catch the Jew
Die unerträgliche Hitze der widerstreitenden religiösen, politischen und sozialen Auseinandersetzungen, die so tiefgreifend den Nahen Osten spalten, werden von der humoristischen Hand Tenenboms gekühlt.
#16 Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt
Dieses dünne Buch ist mehr als eine Philosophie der Pflanzen, wie es der Untertitel der deutschen Ausgabe zusammenfasst. Es ist der Versuch, einen neuen, integralen Blick auf die Pflanzen, die Welt und unser Dasein mit ihnen und in ihr zu eröffnen.
#15 Axel Hutter: Narrative Ontologie
Das ist kein gewöhnliches Sachbuch, das ich hier vor mir habe. Obwohl der Titel etwas anderes erwarten lassen mag, handelt es sich auch nicht wirklich um ein Buch über Philosophie. Das Buch ist eine Erzählung. Genauer: eine deutende Nacherzählung einer Erzählung über das Erzählen, eine Deutung von Thomas Manns epischer Tetralogie Joseph und seine Brüder.
#14 Maxim Biller: Hundert Zeilen Hass
Biller zu hassen ist ein Reflex auf Billers Hass. Billers Hass im Gegensatz ist, genau betrachtet, ein Strategem. Biller kann, was die meisten von uns nicht können: Biller hasst mit Plan – immer gründlicher und immer besser begründet, schöner und ansprechender sowieso.
#13 Giorgio Agamben: Das Geheimnis des Bösen
Wir sind der Aufschub. Solange wir uns nicht entscheiden, für Gerechtigkeit einzutreten, dominiert das Recht und Gesetz der Macht. Auf Erlösung würden wir dann ewig warten.
#12 Victor Hugo: Die Arbeiter des Meeres
Sie klagen uns an, die Bücher, die wir nicht gelesen haben, weil sie auf das verweisen, was wir nicht kennen, sehen, verstehen; weil sie unsere persönliche Habenseite immer zu übertreffen scheinen. Victor Hugo steht in jedem Falle im Inneren jenes mythischen kanonischen Zirkels.
#11 Joshua Cohen: Moving Kings
Geniezuschreibungen kursieren bereits, wo noch keine Seite gewendet ist. Und doch ließe sich in diesem Fall nicht sagen, die Rezensionen seien sorglos und müssten daher fehlgehen, denn Joshua Cohen ist längst das helle Dur der amerikanischen Schriftstellerszene.
#10 Simon Strauß: Sieben Nächte
Es ist Nacht. Ein junger Mann namens S sitzt am Schreibtisch, leere Blätter Papier vor sich ausgebreitet und bereit zur Niederschrift. Das klingt nach einem Anfang. Doch einen solchen sucht man in Simon Strauß’ knapp 140 Seiten umfassendem Buch vergebens.
#9 Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem
Am Beginn dieses Buches steht eine These, die zunächst halb im Scherz daherkommt: »Wir sind nicht die Krone der Schöpfung«, schreibt Jürgen Kaube in Die Anfänge von allem, »wir sind einfach nur seltsam«
#8 Kamel Daoud: Der Fall Mersault
Daoud hält jenen, die den von Albert Camus verfassten Klassiker des Existenzialismus, Der Fremde, gelesen und geliebt haben, und sich niemals die Frage nach dem Namen und der Geschichte des erschossenen »Arabers« stellten, einen Spiegel vor.
#7 Mathias Énard: Kompass
Aus Énards Dankesrede, die er zur Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung hält, stammt die abgründige Metapher: »Es scheint so, als hätten die politischen Kommentatoren dieser Tage vergessen, wer Europa war.«
#6 W. G. Sebald: Austerlitz
Austerlitz ist die Geschichte eines Heimatlosen. Es ist die Geschichte der nicht mehr und nie wieder Heimischen in einer Welt nach dem großen Unglück, der Shoah.
#5 Christopher Hitchens: Letters to a Young Contrarian
Rilke antwortet in »Briefe an einen jungen Dichter« an den angehenden Poeten Franz Xaver Kappus nur, um zuzugestehen, dass er nicht entscheiden kann, ob der junge Franz das Zeug zum Dichter hat oder nicht.
#4 Gloria Anzaldúa: Borderlands/La Frontera
Eine Grenze ist keine Linie, die wir einfach übertreten. Manche bleiben an ihr hängen und andere müssen in ihr leben. Was das bedeutet, beschreibt Gloria Anzaldúa, deren eigene Geschichte bis heute die Geschichte der Menschen im US-mexikanischen Grenzland ist.
#3 Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe
Isa läuft weg. Wovor? Wohin? Die Jugendliche wandert nachts durch Wälder, kommt durch Dörfer, fährt auf einem Containerschiff und in einem LKW mit. Wir erleben mit ihr Momente, Vorher und Nachher spielen dabei keine Rolle.
#2 Claudio Magris: Ein Nilpferd in Lund
Claudio Magris ist ein Nomade und er ist es nicht. Er ist als renommierter Literaturwissenschaftler in Italien etabliert und zugleich als Triester Kaffeehausliterat ein wahrhaft italienischer Denker.
#1 Michael Fehr: Glanz und Schatten
In Fehrs neuem Buch sind 18 Erzählungen versammelt. Schon der erste Blick auf die äußere Form verrät: dies ist keine gewöhnliche Prosa. Es ist eine Prosa des Zusammenbruchs ohne Unglück. Sprechprosa.